„René…“, flüs­tere ich, „wir sind in Afgha­ni­stan.“ Ich schaue ihn an, René lächelt ver­krampft und kur­belt das Fens­ter her­un­ter. Unauf­fäl­lig filmt er Men­schen, Stra­ßen, Häuser.

Allah Afghanistan

Mich durch­flu­ten die wider­sprüch­lichs­ten Gefühle im Sekun­den­takt. Das Sol­da­ten­camp zu ver­las­sen, nur im Taxi und ohne Begleit­schutz, lösen ein Emo­ti­ons­ge­wit­ter in mir aus. Ich fühle mich hell­wach und betrun­ken zugleich. In mei­nem Kopf schwir­ren Ängste, Neu­gier, Stau­nen und Dank­bar­keit wild umher. Was mache ich eigent­lich? Ich sitze in einem Taxi. In Afgha­ni­stan. Hat­ten die Sol­da­ten nicht davor gewarnt? „Ver­lasst nie­mals das Camp! Lebens­ge­fahr!“ Und nun?

Ich ver­su­che, mich zu beru­hi­gen und starre auf ein Medail­lon, das vom Rück­spie­gel her­ab­bau­melt. »Allah« ist dar­auf in ara­bi­schen Schrift­zei­chen ein­ge­stanzt. Wie das Pen­del eines Hyp­no­ti­seurs saugt es mei­nen Blick ein und René filmt alles, was ihm vor die Linse kommt. Ein Mann im bun­ten Hemd sitzt auf dem Bei­fah­rer­sitz. Jamal ist sein Name und er lacht. „Ever­y­thing okay? Let’s go to the city!“

Mazar 2Masar‑e Sha­rif ist die viert­größte Stadt in Afgha­ni­stan. Hier wurde in den 1990er Jah­ren die Natio­nale Isla­mi­sche Ver­einte Front zur Ret­tung Afgha­ni­stans begrün­det, ein gegen die Tali­ban gerich­te­tes mili­tä­ri­sches und poli­ti­sches Bünd­nis. In west­li­chen Medien zumeist „Nord­al­li­anz“ genannt. Mehr­mals ver­such­ten die Tali­ban, Mazar‑e Sha­rif ein­zu­neh­men und ver­üb­ten grau­same Mas­sa­ker an der Bevöl­ke­rung. Im Jahr 2001 eroberte die Nord­al­li­anz mit Hilfe US-ame­ri­ka­ni­scher Trup­pen die Stadt zurück. Seit 2005 sind die Deut­schen zusam­men mit ande­ren Natio­nen im zehn Kilo­me­ter ent­fern­ten Camp Mar­mal sta­tio­niert, dort sind wir ein­ge­la­den, wir schrei­ben das Jahr 2014. Eine kleine Doku­men­ta­tion sol­len wir dre­hen. René und ich.

Mazar‑e Sha­rif gilt als ver­hält­nis­mä­ßig sicher. Zumin­dest so sicher eine Stadt in Afgha­ni­stan sein kann. Auch hier gibt es noch Anschläge.

Ich schaue aus dem Fens­ter und bestaune diese fremde Welt. So ein Städ­te­bild hatte ich bis­her noch nicht gese­hen. Abge­ris­sene Häu­ser, schiefe Sen­de­mas­ten, prot­zige Neu­bau­ten. Dazwi­schen kleine Stände, an denen Kebab und Auto­rei­fen ver­kauft wer­den. Ein abge­rie­gel­tes deut­sches Kon­su­lat, das einer Fes­tung gleicht. Ein mir unver­ständ­li­cher Straßenverkehr.

Män­ner mit Tur­ba­nen und plud­ri­gen Hosen, Jungs in Jeans und T‑Shirt, Frauen in Bur­kas, Mäd­chen mit locker gebun­de­nen Kopf­tü­chern. Schul­kin­der, die kilo­me­ter­weit zu Fuß lau­fen. Men­schen, die zu viert auf einem klei­nen Moped sit­zen. Auto­mar­ken, die ich nicht kenne.

Ein Bild brennt sich in mein Gedächt­nis: Ich sehe einen alten Mann auf einem Fahr­rad durch den ver­wor­re­nen Ver­kehr radeln. Er hat nur ein Bein. Viel­leicht von einer Land­mine zer­fetzt. Um das Pedal zu tre­ten, benutzt er einen lan­gen Holz­stock. Die­ser ein­bei­nige alte Mann mit sei­nem Stock auf dem Fahr­rad mit­ten im Durch­ein­an­der. Und trotz­dem fährt er wei­ter. Ganz selbst­ver­ständ­lich. Irgend­wie. Ich denke, das ist Afgha­ni­stan. Ein ver­sehr­tes Land. Doch es gibt nicht auf.

Das Taxi hält vor der gro­ßen Blauen Moschee, dem Ali-Mau­so­leum aus dem 15. Jahr­hun­dert. Angeb­lich liegt hier der Schwie­ger­sohn des Pro­phe­ten Moham­meds begra­ben. Daher stammt der Name der Stadt. Mazar‑e Sha­rif ist per­sisch und bedeu­tet Grab des Hei­li­gen. Die Blaue Moschee gehört zu den schöns­ten Moscheen der Welt. Einige His­to­ri­ker ver­mu­ten hier aber weni­ger das Grab des berühm­ten Imam Ali, son­dern viel­mehr die Begräb­nis­stätte des Pro­phe­ten Zara­thus­tra, der vor 3.800 Jah­ren gelebt haben soll.

Tauben

Auf dem gro­ßen Platz, der die Blaue Moschee umgibt, gur­ren hun­derte Frie­dens­tau­ben. Män­ner und Frauen wer­fen Brot­kru­men, ein Junge mit Wit­wen­ge­sicht rennt uns hin­ter­her. Kind­lich und geal­tert zugleich. Zwei Tage spä­ter sollte genau hier eine Bombe explodieren.
Im Innen­hof der Moschee blen­den die wei­ßen Mar­mor­plat­ten in den Augen, in Nischen legen Frauen ihre Stirn an die Kachel­wände und beten.

afghanisch jungeWir umrun­den das blaue Wun­der, ste­hen wie scheue Kin­der davor. Ich fühle mich deplat­ziert und aus der Zeit gefal­len, zugleich auf­ge­wühlt und krib­be­lig. René ist unsi­cher, ob er dre­hen soll. Hin­ein trauen wir uns nicht. Hät­ten wir doch den Mut besessen.

Afghanistan Bazar1

In einer Sei­ten­straße war­tet der Taxi­fah­rer auf uns. Fremde Män­ner sagen etwas auf Dari zu mir. Ich weiß nicht, was. Jamal scheucht sie weg. Der Taxi­fah­rer drückt seine Ziga­rette aus, richet sei­nen Pakol – die runde tra­di­tio­nelle Kopf­be­de­ckung der Afgha­nen – und dann fah­ren wir wei­ter. Tie­fer in die Stadt hin­ein. An einem Bazar stei­gen wir aus. Jamal unter­hält sich mit eini­gen Händ­lern, René und ich lau­fen an den Stän­den vor­bei. Und wie­der fal­len wir auf. Men­schen blei­ben ste­hen, recken die Köpfe, schauen uns an. Gelä­chelt wird wenig. Was den­ken die Leute über uns? Sehen sie uns als Besat­zungs­macht, die nun kolo­nial umher­spa­ziert? Ich würde es ver­ste­hen. Oder begrü­ßen sie es gar, dass sich West­ler ihre Stadt anschauen möch­ten? Wer kann das wis­sen? Obwohl ich nichts mit die­sem Krieg zu tun habe, fühle ich mich schuldig.

René dreht nicht mehr. Er ist ange­spannt, die Situa­tion nicht über­schau­bar. Über­all Men­schen. Und Kli­schees in unse­ren Köp­fen. Frauen in blauen und wei­ßen Bur­kas ste­hen neben mir. Afgha­ni­sche Bur­kas wer­den tat­säch­lich auch in Schwarz, Grün oder Orange gefer­tigt. Bevor die Tali­ban alle Frauen ver­pflich­te­ten, den Ganz­kör­per­schleier zu tra­gen, sah man Blau eher sel­ten. Blauer Stoff war damals teu­rer und zeugte von einem höhe­ren Stand. Als die Voll­ver­schleie­rung zum Zwang wurde, war dies die ein­zige Mög­lich­keit der Frau, ihren sozia­len Sta­tus gel­tend zu machen. Und so domi­niert Blau noch heute.

Ich kannte Frauen in Bur­kas nur aus den Medien und jetzt sehe ich sie mit eige­nen Augen. Starre sie an. So wie ich ange­starrt werde. Bis zu die­sem Zeit­punkt konnte ich mir gar nicht vor­stel­len, dass es sie wirk­lich gibt. Gesichts­lose Frauen hin­ter Stoff­git­tern, abge­schirmt und von der Welt getrennt. Wer­den sie gezwun­gen oder tra­gen sie den Stoff frei­wil­lig? Auch das weiß ich nicht. Ich stelle fest, ich weiß rein gar nichts. Warum ist hier stän­dig Krieg? Wer kämpft gegen wen und warum? Weiß das über­haupt jemand?

Afghanistan Bazar2

Wir ver­las­sen das Zen­trum und bie­gen in eine ruhige Straße ein. Hier irgendwo lebe er, sagt Jamal. Die Stra­ßen sind auf­ge­ris­sen und unbe­fes­tigt. Jamal führt uns zu einer klei­nen Bret­ter­bude, die neben Cola-Dosen auch Spiel­zeug, Klo­pa­pier und Ton­krüge ver­kauft. Eilig stellt der Inha­ber zwei Plas­tik­stühle an den Stra­ßen­rand. Hier ist es ruhig. Fried­lich. Der Mann reicht uns Tee und Gebäck. Er scheint sich tat­säch­lich über uns zu freuen, er hat ein offe­nes Lächeln. Auf der ande­ren Stra­ßen­seite kichern Kin­der und schöp­fen Was­ser aus einem Brun­nen. Frauen in Bur­kas gehen vor­über. Dies­mal schaut uns nie­mand an.

Wir schlür­fen unse­ren Tee, auf­ge­wühlt und dank­bar sit­zen wir da. Jamal gesellt sich zu uns, und zum ers­ten Mal kom­men wir ernst­haft ins Gespräch mit ihm. Wir fra­gen, was er von dem Bun­des­wehr­ein­satz hält und wie er über die Tali­ban denkt. Erklä­ren kann er den gan­zen Krieg nicht, aber er befür­wor­tet den Ein­satz der Sol­da­ten und ist froh über die Ver­trei­bung der Tali­ban. Ich bin mir nicht sicher, ob er die frem­den Trup­pen in sei­nem Land wirk­lich will­kom­men heißt. René und ich sind immer­hin Gäste der Bun­des­wehr, die uns wie­derum an ihn ver­mit­telt hat. Was soll er schon sagen? Doch eines glaube ich ihm sofort: „Our coun­try is beau­tiful. I hope the world will see it some time.“

 

Cate­go­riesAfgha­ni­stan
  1. Miriam M says:

    Ein tol­ler und fas­zi­nie­ren­der Bericht. Wenn ich ihn so durch­lese, kom­men mir viele Erin­ne­run­gen hoch..Bald geht es wie­der nach Afgha­ni­stan für mich..zu mei­ner Fami­lie. Hoffe dann, dass ich wie­der diese vie­len Ein­drü­cke sam­meln kann.

  2. Yadgar says:

    Wie es mitt­ler­weile aus­sieht, wäre es wirk­lich bes­ser, Afgha­ni­stan als Staat oder zumin­dest „Micro­na­tion“ irgendwo anders (aber land­schaft­lich ähn­lich) auf der Welt neu zu grün­den, viel­leicht in Pata­go­nien oder in Neu­see­lands süd­li­cher Pro­vinz Otago, in Anda­lu­sien, im aus­tra­li­schen Out­back um Alice Springs oder gar in New Mexico… mit Men­schen, die viel­leicht eth­nisch gar keine Afgha­nen sind, sich aber als sol­che füh­len und Afgha­ni­stan und seine Kul­tur, wie sie vor 1978, vor all den Krie­gen war, neu bele­ben wol­len – sozu­sa­gen ein Ethno-Ree­nact­ment im gro­ßen Stil! Oder sogar ganz im vir­tu­el­len Raum, als inter­ak­tive 3D-Welt, als „Khy­ber­space“…

  3. Ein ein­drucks­vol­ler Bericht. Ich habe „Afgha­ni­stan 1920“ bei Google ein­ge­ge­ben und Bil­der von geschmink­ten, schick fri­sier­ten Frauen mit kur­zen Röcken und Absatz­schu­hen gefun­den – pure Weib­lich­keit. Nein, das „Gefäng­nis“ ist nicht frei­wil­lig, auch wenn sich viele damit abge­fun­den haben mögen. Denn es ist leich­ter, sich ein­zu­re­den, dass schon alles seine Rich­tig­keit hat als sich selbst ein­zu­ge­ste­hen: Ja, ver­dammt… ich bin gefan­gen und Zwän­gen unter­wor­fen und ich kann nichts dage­gen tun, denn ich bin machtlos…

    1. Nadine says:

      Liebe Kasia,
      ich danke dir. Ja, du hast recht. Und selbst in den 1970ern war Afgha­ni­stan noch ein völ­lig ande­res Land.
      Damals mach­ten viele Hip­pies dort Halt. Ich hoffe, die Afgha­nen kön­nen irgend­wann end­lich so leben, wie sie es wirk­lich wollen.

    1. Nadine says:

      Danke. :)
      Ja, ich auch. Ich hoffe, es ist eines Tages mög­lich, dort zu rei­sen. Das Land hat soviel Schön­heit zu bieten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert