Argen­ti­nien, Mai 2014.

Eine Schlange war­ten­der Men­schen. Graue Wol­ken über Bue­nos Aires las­sen dicke Regen­trop­fen vom Him­mel fal­len. Die Schein­wer­fer der Autos spie­geln sich auf dem nas­sen Asphalt. In der Ferne der Umriss eines Bus­ses. Erst wenn er näher kommt, kön­nen wir die Num­mer ent­zif­fern, die über der Wind­schutz­scheibe auf­ge­malt ist. 103, Rich­tung Tapia­les. Die Arme der War­ten­den schie­ßen in die Höhe. So, als wür­den sie in der Schule auf­zei­gen. Der Bus blinkt. Bleibt ste­hen. „Zwei Sieb­zig.“ Der Bus­fah­rer tippt den Betrag in den Com­pu­ter. Ein Fahr­gast hält seine SUBE-Karte an das Lese­ge­rät. Piep. Bezahlt. Das Sys­tem mit den Pre­paid-Kar­ten ist neu. Frü­her musste man den Fahr­preis abge­zählt in Mün­zen bereit hal­ten. Heute geht das Ein­stei­gen schnel­ler. „Bis zu den Stra­ßen Eva Perón und Lar­raza­bal“ – Piep. „Fer­tig?“, schreit der Bus­fah­rer Rich­tung Tür. Der letzte Pas­sa­gier quetscht sich ins Bus­in­nere. „Ich mache zu!“ Die Türen schlie­ßen. „Drei Fünf­zig“ – Piep. Das Fahr­zeug setzt sich in Bewegung.

Es ist heiß, der Bus gesteckt voll. Die Gesich­ter der Ste­hen­den sind ange­spannt. Glück­lich jene, die einen der 20 Sitz­plätze ergat­tern konn­ten. Es ist ein­und­zwan­zig Uhr. Abend­ver­kehr. Die Regen­trop­fen klop­fen an die Fens­ter­schei­ben. Wie in einer Sar­di­nen­büchse ste­hen wir anein­an­der gedrängt. Drau­ßen fliegt das orange Licht der Stra­ßen­be­leuch­tung vor­bei. Der Bus­fah­rer bremst. Eine Hal­te­stelle. Ein paar Leute stei­gen aus, eine Mut­ter mit Kind ein. Jemand erhebt sich von sei­nem Sitz­platz, über­lässt ihn den bei­den. „Bis Villa Madero“ – Piep. Es wird noch enger im Bus. „Geht ein Stück nach hin­ten!“, ruft der Bus­fah­rer. Ein Pas­sa­gier im vor­de­ren Bereich schreit: „Hin­ten ist noch Plaaatz!“ Die Fahr­gäste drü­cken sich in den hin­te­ren Teil des Busses.

Die Luft steht, der Kopf schmerzt. Die Schei­ben sind vom war­men Atem der Rei­sen­den beschla­gen. Jemand öff­net eines der Fens­ter. All­ge­mei­nes Auf­at­men. Ein Schlag­loch. Die Unter­seite des Bus­ses schlägt hart auf den nas­sen Asphalt auf. Bondi hei­ßen die Busse in Bue­nos Aires. Viel­leicht des­halb, weil ihre Fah­rer unter­wegs sind, als hät­ten sie die Haupt­rolle in einem James-Bond-Film ergat­tert. Über 450 ver­schie­dene Linien bah­nen sich jeden Tag ihren Weg durch den Stra­ßen­dschun­gel von Bue­nos Aires. Der Bus­fah­rer bremst ruck­ar­tig. Die Pas­sa­giere schwan­ken kol­lek­tiv nach vorne. „Zwei Fünf­und­acht­zig“ – Piep. „Hin­ten ist noch Plaaatz!“ Ein lau­tes „Pscht!“ dringt von hin­ten nach vorne. Betre­tene Stille. Nur aus einer Ecke tönt leise Musik aus schlecht iso­lier­ten Kopf­hö­rern. Der Bus­fah­rer gibt Gas. Wir wer­den geschlos­sen nach hin­ten gedrückt.

Die Häu­ser vor dem Fens­ter sehen her­un­ter­ge­kom­men aus. Je wei­ter wir uns vom Stadt­zen­trum ent­fer­nen, umso häss­li­cher die Gegend. Eine Frau bekreu­zigt sich. Das tun man­che Argen­ti­nier, wenn sie an einer Kir­che vor­bei­kom­men. Am Stra­ßen­rand fuch­teln ein paar Leute mit den Armen. „Eva Perón und Escalada“ – Piep. „Zwei Sieb­zig“ – Piep. „Hin­ten ist noch Plaaatz!“ Ver­är­gerte Gesich­ter. Vorne fragt jemand, ob Argen­ti­nien die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft gewin­nen wird. Schon mög­lich, sagt ein Ande­rer. Aus einem Teil des Bus­ses kommt ein lau­ter Seuf­zer. Die Schei­ben­wi­scher quiet­schen unent­wegt vor sich hin.

Drau­ßen ist es dun­kel, die Stra­ßen sind hier nur noch spär­lich beleuch­tet. Auf der lin­ken Seite befin­det sich ein Elends­vier­tel. Rechts der größte Rin­der­markt der Stadt. Der Bus bremst. Hal­te­stelle. „Hin­ten ist noch Plaaatz!“ „Sei ruhig! Hier ist kein Platz mehr!“ Es stinkt nach Kuh­stall. „Hin­ten ist noch Plaaatz!“ Müde Bli­cke ver­su­chen den Stö­ren­fried aus­zu­ma­chen. Der Arm tut weh vom Fest­hal­ten. „Du gehst mir auf die Eier, halt end­lich dein Maul!“ Die Fahr­gäste dre­hen ihre Köpfe nach hin­ten. Dort ist kein Platz mehr.

Nach dem Rin­der­markt kom­men große Sozi­al­bau­ten. Ein Sport­klub. Danach der Bus­bahn­hof. Gegen­über die hell beleuch­tete Tank­stelle. Vor uns liegt die Ave­nida Gene­ral Paz. Stadt­grenze. Die Auto­bahn trennt Bue­nos Aires von den Vor­or­ten. Der Groß­teil der Fahr­gäste steigt hier aus. Sie wer­den ihre Reise in ande­ren Bus­sen fort­set­zen. Auch „Hin­ten ist noch Plaaatz!“ ver­lässt uns. Die Pas­sa­giere der Bus­li­nie 103 atmen hör­bar auf. Freie Plätze. Wir las­sen uns in die gepols­ter­ten Sitze fal­len. „Zwei Fünf­zig“ – Piep. „Bis Tapia­les“ – Piep. Noch zehn Minu­ten bis nach Hause.

Cate­go­riesArgen­ti­nien
Hanna Silbermayr

Oft sind es die kleinen Dinge, die uns zum Staunen bringen. Begegnungen und Gespräche, die zum Nachdenken anregen, uns einen Moment innehalten lassen in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint, uns ein Lächeln entlocken.

Solche Momente möchte ich nicht für mich behalten, sondern mit Euch teilen. Ich, das ist eine ausgebildete Grafikdesignerin, studierte Romanistin und Politikwissenschaftlerin, die im Namen des Journalismus immer wieder in Lateinamerika unterwegs ist. Demnächst wohnungslos und in stetiger Bewegung.

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