Vor mir steht ein Mönch mit weit auf­ge­ris­se­nem Mund und streckt mir seine Zunge ent­ge­gen. Ich blinzle wie ein benom­me­nes Yak in die blen­dende Sonne und schwanke zwi­schen empör­tem Ent­set­zen und Ver­wun­de­rung. „Zeig ihm deine Zunge!“, die sanft for­dernde Stimme mei­nes Gui­des Tse­nam reißt mich aus mei­nen ver­wirr­ten Gedan­ken und nach kur­zem Zögern schiebe ich meine staub­tro­ckene Zunge brav dem Tages­licht ent­ge­gen. Mit einem flüch­ti­gen Nicken trollt sich der Mönch sei­ner Wege und ich stehe mit her­aus­hän­gen­der Zunge auf 4000 Meter Höhe vor einem Klos­ter in der Nähe von Lhasa.

Tibet Mai 2012 (2)

Will­kom­men auf tibetisch.

Es ist meine erste Woche in Tibet und ich habe alle übli­chen Ver­däch­ti­gen der Rei­se­li­te­ra­tur gele­sen, aber kein Lonely Pla­net oder Ste­fan Loose hat mich auf diese Begeg­nung vor­be­rei­tet. „In den länd­li­che­ren Gegen­den ist es üblich, Frem­den zur Begrü­ßung seine Zunge ent­ge­gen­zu­stre­cken. Damit zeigst du, dass du nicht von bösen Geis­tern beses­sen bist.“ Die Stimme dringt wie durch eine Glo­cke an mein Ohr. Meine Wan­gen bren­nen, das Blut rauscht mir in den Ohren und selbst durch meine Jeans hin­durch kann ich einen deut­li­chen Puls in mei­nem Ober­schen­kel erken­nen. „Wie wäre es mit einem Tee?“ Tse­nam stellt diese Frage so bei­läu­fig als hät­ten wir gerade eine Couch­gar­ni­tur zusam­men gekauft. Ich ver­su­che zustim­mend zu Nicken aber meine ange­wi­dert zucken­den Mund­win­kel müs­sen mich wohl ver­ra­ten haben. „Keine Angst, den But­ter­tee heben wir uns für spä­ter auf.“ Mit die­sen Wor­ten ver­schwin­det er hin­ter einem flat­tern­den Vorhang.

Tibet Mai 2012 (3)
Tibet Mai 2012 (4)

Wäh­rend ich noch skep­tisch an mei­nem Becher mit einer klum­pi­gen Mischung aus hei­ßem Was­ser und Milch­pul­ver nippe, beginnt Tse­nam zu erzäh­len. Aber dies­mal geht es nicht um Bud­dhis­mus oder den gro­ßen König Song­tsen Gampo wie all die Tage zuvor. Er spricht mit ruhi­ger Stimme von sei­ner Fami­lie, sei­ner Flucht nach Indien, den Selbst­ver­bren­nun­gen im Land und der Ver­zweif­lung der Tibe­ter über die chi­ne­si­sche Herr­schaft. Frus­triert über die eigene Macht­lo­sig­keit hat sich in den letz­ten Jah­ren eine neue Form des Pro­tes­tes ent­wi­ckelt. Am 27. Februar 2009 steckte sich der 25-jäh­rige Tenpe als ers­ter Mönch selbst in Brand, um gegen die kom­mu­nis­ti­sche Regie­rung zu demons­trie­ren. Seit jenem Febru­ar­tag fan­den über 120 Selbst­ver­bren­nun­gen in Tibet statt.

In der Zeit vor mei­ner Abreise konnte man bei­nahe jede Woche neue Mel­dun­gen über wei­tere Selbst­ver­bren­nun­gen lesen und mein Ein­reise-Antrag hing in den chi­ne­si­schen Büro­kra­tie­müh­len fest. Ich packte mei­nen letz­ten Hoff­nungs­schim­mer in den Ruck­sack, schluckte die Tablet­ten gegen die Höhen­krank­heit und flog nach Chengdu, wo ich fünf Stun­den vor mei­nem Wei­ter­flug tat­säch­lich mein „offi­zi­el­les“ Grup­pen-Per­mit in den Hän­den hielt. Das vier­sei­tige Doku­ment kam direkt aus Lhasa und machte sich wenige Stun­den spä­ter in mei­nen zitt­ri­gen Hän­den wie­der zurück auf den Weg, von wo es her gekom­men war.

Tibet Mai 2012 (5)

„Where is your group?”

Als ich in Lhasa aus dem Flug­zeug steige und den ers­ten vor­sich­ti­gen Atem­zug nehme, ist die Welt für mich in tota­ler Har­mo­nie. Ich bin wahr­haf­tig und tat­säch­lich in Tibet und selbst wenn sie mich direkt wie­der zurück­schi­cken, habe ich es bis hier­her geschafft. Meine Eupho­rie hält ganze zehn Meter bis zum Gepäck­band, wo ich noch vor mei­nem Ruck­sack auf Mili­tärs treffe und das erste Mal die Frage höre, die mich die nächs­ten Tage beglei­ten sollte: „Where is your group?“ Die Namen mei­ner ima­gi­nä­ren Gruppe aus Niklas, Bri­gitte, Die­ter Josef und Klaus habe ich noch im Flug­zeug aus­wen­dig gelernt und fortan erzähle ich immer wie­der die trau­rige Geschichte von den krank gewor­de­nen Mit­rei­sen­den, die erst in den kom­men­den Tagen nach­kom­men kön­nen. Die Anspan­nung im Land hängt in der Luft wie der alles durch­drin­gende Weih­rauch­duft. Poli­zei- und Pass­kon­trol­len sind an der Tages­ord­nung und wenn ich nicht mit mei­nem Guide unter­wegs bin, werde ich per­ma­nent kontrolliert.

Der erste Anblick des rot leuch­ten­den Potala Palas­tes vor stahl­blauen Hima­laya Him­mel raubt mir den ohne­hin schon knap­pen Atem. Nach sechs Tagen Akkli­ma­ti­sie­rung schaffe ich zwar den mor­gend­li­chen Früh­stücks-Auf­stieg zur Dach­ter­rasse mei­nes Hotels ohne Zusam­men­bruch aber der Weg zum Potala Palast ist wahr­lich atem­be­rau­bend. Als ich die hei­li­gen Hal­len nach einer gefühl­ten Ever­est-Bestei­gung end­lich röchelnd und keu­chend errei­che, drängt mich Tse­nam erbar­mungs­los wei­ter. Ein strik­tes 60 Minu­ten Zeit Ulti­ma­tum ist die Bedin­gung für den Ein­lass zu den 999 Räu­men auf 13 Stock­wer­ken! Tse­nam zieht mich uner­müd­lich von einem Raum zum Nächs­ten bis er im Ange­sicht der Grab­stätte des fünf­ten Dalai Lama seine Stirn senkt und ver­harrt. Wäh­rend ich noch mit einer dich­ten Weih­rauch­wolke kämpfe, legt mir ein vor­bei­hu­schen­der Mönch wort­los eine Khata, den tra­di­tio­nel­len wei­ßen Begrü­ßungs­schal, um den Hals.

Tibet Mai 2012 (15)
Tibet Mai 2012 (8)

„Wie schnell kannst du rennen?“ 

Tse­nams Frage nach mei­nen läu­fe­ri­schen Fähig­kei­ten reißt mich aus mei­nen weih­rauch­ge­schwän­ger­ten Gedan­ken. „Wir haben noch zwei Minu­ten, um das Tor zu errei­chen“. Ich will gerade anmer­ken, dass man steile Holz­lei­tern nicht run­ter ren­nen kann, da ist er auch schon in der Tiefe ver­schwun­den. Mit wack­li­gen Bei­nen taste ich mich hin­ter­her und in der Ferne sehe ich Tse­nam neben einem grim­mig schau­en­den Mili­tär in meine Rich­tung zei­gen. Mein nächs­ter Tritt geht ins Leere und ich segle unsanft abwärts, bis ich mit schmer­zen­dem Hin­ter­teil unter den fins­te­ren Bli­cken des Sicher­heits­man­nes zum Sit­zen komme. Wäh­rend ich noch über­lege, wie sich ein Steiß­bein­bruch eigent­lich anfühlt, ver­schwin­det mein Pass mit einer mili­tä­ri­schen Dre­hung in einem Über­wa­chungs­häus­chen. Zehn Minu­ten spä­ter wird Tse­nam mit dem ele­gan­ten Schwung eines Maschi­nen­ge­wehrs zum Ver­hör beor­dert und ver­schwin­det eben­falls hin­ter der Tür mit dem ver­bli­che­nen Auf­kle­ber der chi­ne­si­schen Flagge. Wei­tere zwan­zig Minu­ten spä­ter habe ich den Gedan­ken an eine Flucht gerade ernst­haft in Erwä­gung gezo­gen, als mir eine Dele­ga­tion von sechs Sicher­heits­män­nern unmiss­ver­ständ­lich den Weg zum Aus­gang weist. Als ich Rich­tung Tor humple, wage ich nicht mich umzu­dre­hen und umklam­mere mei­nen Pass und Tse­nams Hand so fest, dass es weh­tut. „Die Zeit ist reif für dei­nen ers­ten Buttertee.“

Tibet Mai 2012 (16)

 

Den letz­ten Abend ver­bringe ich, wie jeden vor­he­ri­gen, auf dem Pil­ger­pfad vor dem Jok­hang Tem­pel. Ich liebe die­sen Moment des Tages, wenn das Licht die Gebets­fah­nen leuch­ten lässt und ein Geräusch­tep­pich aus krei­sen­den Gebets­müh­len alles andere schluckt. Pil­ger zie­hen leise betend vor­bei, wer­fen sich vol­ler Inbrunst der Länge nach auf den Boden und umrun­den so den Tem­pel. Der hei­lige Monat Saga Dawa hat gerade begon­nen und unzäh­lige Pil­ger­scha­ren strö­men aus allen Tei­len des Lan­des nach Lhasa. Die ver­bo­tene Stadt hüllt sich in einen fried­li­chen Weihrauchschleier.

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Tibet Mai 2012

Zwei Tage spä­ter errei­chen die Selbst­ver­bren­nun­gen das erste Mal die hei­lige Stadt Lhasa. Die bei­den jun­gen Mön­che Tob­gyel Tshe­ten und Dar­gye über­gie­ßen sich vor dem Jok­hang Tem­pel mit Ben­zin und ste­cken sich inmit­ten hun­der­ter Pil­ger in Brand.

Als ich davon erfahre, sitze ich in einem chi­ne­si­schen Ver­hör­raum am Flug­ha­fen und muss mit anse­hen, wie die letz­ten Bil­der aus Lhasa von mei­ner Kamera gelöscht werden.

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Tibet Mai 2012 (12)

Cate­go­riesChina Tibet
Julia Karich

Heimweh in die Ferne … Kennt ihr das? Früher reisende Journalistin, heute schreibende Touristikerin und morgen? Wahrscheinlich immer noch auf der Suche.
Nach was? Das weiß sie auch nicht so genau, aber solange das Heimweh gestillt wird, hält sich das Fernweh in Grenzen.

  1. Sóley says:

    Was für ein wun­der­ba­rer Text! Tibet fas­zi­niert mich schon so lange und ich finde es so furcht­bar, wie diese Kul­tur von den Chi­nen­sen zer­stört wird. Ich hoffe ich habe auch irgend­wann mal die Mög­lich­keit dort­hin zu fahren.
    Wieso genau wur­den deine Fotos alle gelöscht? Weil man wusste, dass du Arti­kel schreibst? Wirk­lich schade. Stam­men die Fotos im Arti­kel also von früher?

    1. Julia Karich says:

      Danke für die lie­ben Worte. Die Stim­mung war auf­grund der zahl­rei­chen Selbst­ver­bren­nun­gen sehr ange­spannt in Tibet als ich dort war (Mai 2012). Die Poli­zei­prä­senz war enorm stark, vor­al­lem in Lhasa und im All­ge­mei­nen war es ver­bo­ten, irgend­eine Mili­tär­prä­senz zu foto­gra­fie­ren. Ich wurde gene­rell kon­trol­liert, wenn ich alleine, also ohne Guide, unter­wegs war. In den Kon­trol­len wur­den dann jeweils die letz­ten zehn Bil­der von der Kamera gelöscht. Ich habe zwi­schen­durch immer wie­der meine Spei­cher­kar­ten gewech­selt und sehr, sehr viele „harm­lose“ Land­schafts­bil­der gemacht. Die Bil­der im Arti­kel sind alle von mei­ner Reise 2012, die ich noch ret­ten konnte bzw. heim­lich gemacht habe. Nur meine letzte Spei­cher­karte mit den Bil­dern der letz­ten Tagen aus Lhasa wurde kom­plett gelöscht, da eben das erste Mal eine Selbst­ver­bren­nung in Lhasa stattfand.
      Aber meine Erin­ne­run­gen kann nie­mand löschen .…

  2. Tina says:

    Schein­bar hat­ten wir im Herbst 2011 Glück, weder bei der Ein­reise (die aus­ge­druck­ten LP Sei­ten haben sie nicht ent­deckt) noch wäh­rend der 9 Tage wur­den wir ein­mal vom Mili­tär auf­ge­hal­ten oder kontrolliert.
    Aber das Gefühl ist ein­fach unbe­schreib­lich, wenn man sich abends in die Umrun­dung ein­reiht, oder keu­chend die Trep­pen zum Palast hoch­steigt, und dann in die Weite des Hoch­lands verschwindet…und der Anblick vom Everst ist ein­fach unbeschreiblich.

  3. Heinz Rainer says:

    Guter Bericht und gute Auf­nah­men. Es ist nur schade dass Sie den Flug von Chengdu unter­nah­men. Das ist gar nicht unge­faehr­lich. Der ploetz­li­che Hoe­hen­un­ter­schied kann bei man­chen ernst­hafte Fol­gen nach sich zie­hen, die von Herz­ver­sa­gen ueber hef­tigste Kreis­lauf­stoe­run­gen und mehr rei­chen. Naechs­tes Mal lasse ich Sie mit ueber den Land­weg kom­men. Die Unru­hen sind ueber­i­gens von frem­der Hand ange­stif­tet. LG HR

    1. Julia Karich says:

      Danke schön.
      Ursprüng­lich wollte ich über den Land­weg nach Lhase aber kurz vor mei­ner Abreise (Mai 2012) wur­den zwei grenz­nahe Pro­vin­zen gesperrt und es war unmög­lich, als Allein­rei­sende durchzukommen.
      Wegen des Höhen­un­ter­schieds habe ich Tablet­ten genom­men, die mich wohl vor Schlim­me­ren bewahrt haben. Lei­der ent­spre­chen die Neben­wir­kun­gen die­ser Tablet­ten den abge­schwäch­ten Sym­pto­men der Höhen­krank­heit. Inso­fern würde ich diese Methode nicht unbe­dingt emp­feh­len und das nächste Mal sehr gerne über den Land­weg rei­sen. lg

  4. Romy says:

    Ich war vor 2 Jah­ren in Tibet und seit­dem bewegt mich noch mehr was dort pas­siert. Ein fas­zi­nie­ren­des Land, ich habe oft geweint vor Glück, konnte es kaum fas­sen auf dem Dach der Welt zu ste­hen. Die herz­li­chen Begeg­nun­gen in den Klös­tern, bei den Noma­den und die Weite des Lan­des haben mich sehr beein­druckt. Aber ich war auch scho­ckiert über Lhasa, an jeder Ecke Mili­tär… zu Fünft, Einer mit Feu­er­lö­scher, über­all Über­wa­chungs­ka­me­ras, viel von der Alt­stadt schon platt gemacht. Und ichn habe es auch erlebt, dass uns das Mili­tär auf einer Hoch­ebene in fast 5000m Höhe mit vor­ge­hal­te­nen Geweh­ren aus dem Jeep geholt hat und unsere Fotos kon­trol­liert hat! Seit mei­ner Reise ver­folge ich noch genauer was in Tibet pas­siert und ich leide mit und mit dem Her­zen bin ich immer in Tibet!

  5. Thomas says:

    Tibet steht auch noch auf mei­ner Liste (nach­dem ich schon sehr oft in China war). Vor allem möchte ich dann zum Mount Ever­est Base Camp.

    Lg
    Thomas

    1. Julia Karich says:

      Danke schön.
      Man könnte per­ma­nent schreien vor Wut aber eigen­lich ist es eher zum heulen …

  6. Noemi Janine says:

    Irgend­wann möchte ich auch ein­mal nach Tibet, hof­fent­lich gibt es die­ses Land dann noch!!

    Liebe Julia, dein Text war wun­der­schön. Schade wur­den all deine Bil­der gelöscht, doch du wirst sie ein­fach in dei­nem Her­zen behalten. :)

    1. Julia Karich says:

      Vie­len Dank liebe Noemi
      Ich hoffe, du kommst irgend­wann mal aufs Dach der Welt – den Anblick, aber vor­al­lem die Men­schen, ver­gisst man nie!

      Was die Bil­der betrifft, halte ich mich an Max Frisch. „Auf Rei­sen glei­chen wir einem Film, der belich­tet wird. Ent­wi­ckeln wird ihn die Erinnerung.“

    2. Natür­lich wird sie die Bil­der im Her­zen behalten..etc.….
      Aber der Rest der Welt hätte diese Bil­der halt auch gerne gese­hen. Da sind wich­tige Doku­mente, Zeu­gen einer Welt, die even­tu­ell bald nicht mehr exis­tiert. Bil­der von Häu­sern und Stra­ßen, die bald abge­ris­sen werden.….

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