A

Als der Hahn sich strangulierte

Am drit­ten Tage reg­nete es. „Das Wet­ter ist ja so viel schö­ner hier als in Gua­te­mala“, hatte ich die vor­he­ri­gen zwei Tage noch gesagt. Da wun­derte ich mich, warum die ande­ren mich komisch ansa­hen. Vor mei­ner Ankunft war näm­lich durch­gän­gig Regen – und die­ser kam zurück.

In Hon­du­ras war gerade Regen­zeit. Mit Regen meine ich daher nicht ein­fach nur Regen. Es ist, als ob ein Eimer vol­ler Was­ser über dir aus­ge­schüt­tet wird. Die­ser Eimer ist unun­ter­bro­chen voll und folgt dir auf Schritt und Tritt. Das Ganze 24 Stun­den am Tag ohne Pause – und den nächs­ten Tag auch.

Foto 9

Die­ser dritte Tag war ein sol­cher. Am Tag war ich trotz Regen­equip­ment schon zwei­mal kom­plett trief­nass gewor­den. Also kau­erte ich mich am Abend unter dem Ter­ras­sen­dach in mei­nem Djel­la­bah. Die Hüh­ner in unse­rem Gar­ten lie­fen immer ver­wirr­ter umher. Irgend­wie woll­ten sie nicht nass wer­den, aber trotz­dem über­all nach Essen picken. Außer der Chef­hahn. Sein schö­nes Feder­ge­wand war ihm wohl zu edel, schon den gan­zen Tag hockte der Hahn unter dem Farn. Stun­den­lang stand er in die­ser Posi­tion, ohne sich zu bewe­gen. Plötz­lich aus dem Nichts hör­ten wir ein lau­tes Quie­ken, ein schnel­les Flü­gel­schla­gen und der Hahn hing kopf­über im Rasen. Inner­halb weni­ger Sekun­den hatte er sich selbst erdros­selt – mit dem Seil, das an sei­nem Fuß gebun­den war. Wie auch immer er das geschafft hatte.

Foto 8

An dem kur­zen Seil gebun­den, hätte er wohl auch nicht über­lebt was danach pas­sierte. Denn kurz danach konnte der Boden nicht mehr Was­ser auf­sau­gen. Aus dem schon zuvor zum knie­tie­fen See gewor­de­nen Gar­ten wurde eine Bug­welle, die auf die Ter­rasse schwappte. Auf ein­mal ging alles ganz schnell. Zwi­schen Bug­wel­len­was­ser und Tür­schwelle waren nur noch drei Zen­ti­me­ter, als wir merk­ten, es würde ernst wer­den. Alle natür­li­chen Abfließ- und Auf­saug­wege des Regens waren voll und das Was­ser stieg minüt­lich einen gan­zen Zen­ti­me­ter. Man konnte quasi zuse­hen. Dem­zu­folge floss drei Minu­ten spä­ter auch schon die erste Welle in unser Haus. Das Was­ser strömte regel­recht hin­ein als hätte es die ganze Zeit nur dar­auf gewar­tet. End­lich durfte es jede Ecke unse­res Hau­ses erkunden.

Foto 3

Wir lie­fen schnell durch alle Zim­mer und schmis­sen alle Sachen auf die dazu­ge­hö­ri­gen Bet­ten. Vor allem die Dinge auf dem Boden – und dort lagen so einige Samm­lun­gen an Elek­tro­ka­beln und benutz­ten Socken. Die wich­tigste iPad-iPhone-Tech­nik sam­mel­ten wir in einer Tüte, plat­zier­ten sie auf dem höchs­ten Tisch und beob­ach­te­ten sie immer mit einem hal­ben Auge.

Foto 7

Nur meine Freun­din Sany und ich waren zu die­sem Zeit­punkt im Haus. Unsere ande­ren vier Mit­be­woh­ner waren unter­wegs. Einer kam zwi­schen­durch, dem wir nicht die ver­rie­gelte Tür öff­nen konn­ten. Denn davor stand das Was­ser mitt­ler­weile knie­hoch, im Haus konn­ten wir es gerade noch waden­hoch hal­ten. Hinzu kam der häm­mernde Lärm des aggres­si­ven Regens auf dem Well­blech­dach. Schon am Abend konnte ich nicht sky­pen wegen des Lärms. Selbst neben­ein­an­der ste­hend musste man sich anschreien.

Also schrien wir ihn durch’s Fens­ter an, die Bom­beros zu holen. „Häh?“ „Bom­beros!“ „Häh?“ „Bom­beros!“ So in etwas lief die Unter­hal­tung ab. Die Bom­beros sind die lokale Feu­er­wehr und die lokale Feu­er­wehr sind unsere Freunde. Viel­mehr als die lokale Poli­zei, denn die sind mehr kor­rupt als Freund und Hel­fer. Die Bom­beros aller­dings hat­ten bereits zu viel mit allen ande­ren über­schwemm­ten Häu­sern zu tun.

Foto 5

Kurz danach kam unsere direkte Nach­ba­rin Celina mit ihrer drei­jäh­ri­gen Toch­ter Ali­s­son. Ihr klei­nes Ein­zim­mer­haus lag noch etwas tie­fer als unse­res und war schon hüft­hoch geflu­tet. Was für die kleine Ali­s­son schei­tel­hoch war. All ihr Hab und Gut schwamm bereits um sie herum, als sie beide von ihrem frü­hen Schlaf auf­wach­ten. Ganz auf­ge­regt kam sie mit Ali­s­son auf dem Arm und ihrem Handy in der Hand hil­fe­su­chend zu uns. Sie wusste nicht, was sie noch grei­fen sollte.

Inner­lich eigent­lich selbst vol­ler unwis­sen­der anstei­gen­der Panik, beru­hig­ten wir sie und über­nah­men Ali­s­son. Zu unse­rer Haus­ret­tungs­ver­ant­wor­tung tru­gen wir nun auch noch die Ali­s­son­be­spa­ßungs­ver­ant­wor­tung. An die­sem Abend lern­ten wir so eini­ges Spa­nisch wie ‚Wie lus­tig! Ein gro­ßer Swim­ming­pool!’ oder ‚Das ist kein schwim­men­des Radio, das ist ein Schiff!’ oder ‚Auch Prin­zes­sin­nen müs­sen manch­mal baden!’. Unsere Nach­ba­rin Celina lief in ihr Haus zurück, um die wich­tigs­ten Sachen zu sichern. Als sie zurück kam, hatte sie einige Taschen bei sich – mit aus­schließ­lich Sachen für Alisson.

Foto 6

Wir hat­ten schon die Sofa­pols­ter benutzt, um den Spalt der Ein­gangs­tür zu ver­stop­fen und waren so mit dem Vor­der­ein­gang beschäf­tigt, dass wir erst nicht merk­ten, dass das Was­ser auch schon den Hin­ter­ein­gang gefun­den hatte. Der Was­ser­strom des Vor­der­ein­gangs und der Was­ser­strom des Hin­ter­ein­gangs tra­fen genau vor unse­rer Zim­mer­tür auf­ein­an­der, sodass ein noch viel grö­ße­rer Strom ent­stand, der sich Vor­zugs­weise unter unse­ren Bet­ten zur Ruhe setzte. Und dort auch beängs­ti­gend anstieg.

Foto 1

Auf der Suche nach zu ret­ten­den Besitz­tür­mern wurde der Gang immer schwe­rer. Immer mehr Was­ser muss­ten wir vor uns her schie­ben, immer höher krem­pelte ich meine Leg­gins, immer mehr bieg­ten sich die Flip Flops bei jedem Schritt. Die vor­ge­nom­mene Siche­rungs­lage ‚Alles auf die Bet­ten’ schien jetzt gar nicht mehr so sicher. Da die Bom­beros eh nicht kamen und wir nicht all unser weni­ges Hab und Gut ver­lie­ren woll­ten, musste ein neuer Plan her. Wir muss­ten höher sta­peln. Bett auf Bett. Also pack­ten wir Ali­s­son und alle Sachen vom einen auf’s andere Bett.

Kurz vor’m gro­ßen Manö­ver schrien unsere mitt­ler­weile zusam­men­ge­trom­mel­ten Mit­be­woh­ner uns zur Tür. Sie hat­ten einen neuen Plan. Alle schnell ins Haus, die wich­tigs­ten Sachen schnap­pen und zum Beach Haus lau­fen. Das Beach Haus war über­ra­schen­der­weise unten am Strand, hatte einen zwei­ten Stock und wurde von wei­te­ren Freun­den bewohnt – da soll­ten wir sicher sein.

Foto 10

Also gaben wir unsere Sofa­pols­ter­si­che­rungs­bar­ri­kade auf, lie­ßen unsere Mit­be­woh­ner sowie einen rie­sen Schwall Was­ser hin­ein, pack­ten unsere Ruck­sä­cke und lie­fen vor die Tür. Auf dem Ter­ras­sen­tisch packte Celina noch Ali­s­sons Sachen in was­ser­feste Tüten. Als die bei­den sich wie­der­sa­hen, hielt sie einen kur­zen Moment inne. Ali­s­sons Freude an unse­rem Tumult beru­higte auch sie ein wenig. Dabei fühlte sie sich gerade gar nicht freu­dig. Sie hatte ihre gesamte Exis­tenz umher­schwim­men sehen.

Foto 4

Alle luden sich Ruck­sä­cke vorne, hin­ten, seit­lich auf. Celina war zu bela­den mit Ruck­sä­cken und Ner­vö­si­tät, dass sie sich Ali­s­son nicht auch noch auf­la­den konnte. Also nahm ich sie und einen Regen­schirm auf den Arm. Denn der Regen war so stark, dass er Ali­s­son nicht nur nass, son­dern auch aua gemacht hätte.

Foto 12

In geball­ter Ruck­sack­runde lie­fen wir los. Erst knie­tief durch den Gar­ten­see. Der Boden war nicht sicht­bar, mod­rig, glit­schig und gleich­zei­tig mit spit­zen Stei­nen gesät. Keine kom­for­ta­ble Drei­er­kom­bi­na­tion, wenn man mit sei­nem gesam­ten Besitz hin­ten und einem drei­jäh­ri­gen Kind vorne bela­den ist. Unser Rei­se­tempo war daher mehr als lang­sam. Auf der Straße war das Was­ser etwas weni­ger tief, dafür aber mit einer star­ken Strö­mung, die einen nie­der­brin­gen wollte. Auch hier wirkte das Was­ser, als wüsste es genau, wohin es wollte. Und wenn du im Weg bist, musst du eben mit.

Foto 2

Auf dem Weg waren immer wie­der Pfüt­zen, die sich über die gesamte Breite der Straße erstreck­ten und deren Tiefe nicht ein­zu­schät­zen war. Aber da muss­ten wir durch. Irgend­wie war jede immer noch ein Stück tie­fer als die vor­he­rige. Bis sie so tief wur­den, dass meine Flip Flops dem Was­ser­druck nicht mehr ent­ge­gen­hal­ten konn­ten. Fast zeit­gleich bra­chen die Zehen­stan­gen ab und ich stand bar­fuß im schlei­mi­gen, spitz­stei­ni­gen Müll­see mit­ten in Hon­du­ras’ Stra­ßen. Aber nie­mand anders konnte die­sen Weg für mich gehen. Da musste ich durch. Da ich meine eh alten Sport­schuhe im über­schwemm­ten Haus zurück gelas­sen hatte, war ich ab hier schuh­los. Inner­halb einer hal­ben Stunde redu­zierte ich mein Gepäck von zwei Paar Schu­hen auf kein Paar Schuhe.

Foto 11

Als wir den letz­ten mitt­ler­weile hüft­ho­hen Stra­ßen­müll­see durch­wa­te­ten, sahen wir schon das Licht am Ende: Vor dem Beach House war­te­ten bereits unsere tro­cke­nen Freunde auf uns. Wir kamen an und wirk­lich alles war nass: Alles an uns, alles im Ruck­sack, Ali­s­son. Trotz mühe­voll auf­recht gehal­te­nem Regen­schirm. Wir beka­men eine warme Dusche, ein war­mes Gericht und warme Klei­dung von den tro­cken Gebliebenen.

Foto 13

Drei Tage lang brauch­ten meine Sachen zum Trock­nen in dem feuch­ten Klima, sodass ich drei Tage lang rein in Klei­dung ande­rer ver­brachte. Das war ein neues Gefühl von Frei­heit. Kein Socken, kein Schuh, der sich zum Anzie­hen anbot. Kein Zim­mer, in den mein Ruck­sack gehörte. Kein Apfel, den ich essen konnte. Kein Bett, in das ich mich ein­fach schmei­ßen konnte. Alles, ein­fach alles gehörte jemand ande­rem. Aber alles, ein­fach alles, gaben mir die ande­ren gerne.

Ohne die Obhut des Beach Hau­ses wäre es für mich eine echte Kata­stro­phe gewor­den. Aber so war es nur eine Natur­ka­ta­stro­phe. Nichts zu haben und doch alles nut­zen zu kön­nen, war ein tol­les neues Gefühl von Befreiung.

Cate­go­riesHon­du­ras
Lena Kuhlmann

Es geht nicht um Orte. Sondern um Begegnungen, Menschen, Erlebnisse. Es geht Lena darum in Lebenswelten einzutauchen und dabei in den kleinsten Details das Größte zu finden. Und das findet Lena in den Orten da draußen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert