Die lange Reise nach Pushkar

Delhi

Gerade hatte ich in den Ber­gen um Dha­ramsala und Manali etwas Abstand zu mei­nem alp­traum­ar­ti­gen Ein­stand in Indien gewon­nen. Doch nun musste ich wie­der nach Delhi, um meine Reise nach Raja­sthan fort­zu­set­zen. Auf den letz­ten Kilo­me­tern Fahrt in die Stadt hin­ein, war mir mul­mig zumute. Meine ers­ten Erfah­run­gen mit der Stadt steck­ten mir noch immer im Nacken und meine Laune wurde immer düs­te­rer, je län­ger wir an end­lo­sen Slums und grauen Indus­trie­an­la­gen ent­lang­fuh­ren. Immer wie­der wähnte ich mich bereits in der Innen­stadt, doch die Vor­städte und Indus­trie­re­gio­nen sind von rie­si­gem Ausmaß.

Schließ­lich ange­kom­men, ließ ich mich auf einer Fahr­rad­rik­scha nach Pahar­ganj fah­ren. Das Stadt­vier­tel, das sich um die Main Bazar Road erstreckt, liegt in der Nähe des Haupt­bahn­hofs. Die Main Bazar Road selbst ist eine kilo­me­ter­lange Ein­kaufs­straße, in der man Alles fin­det. Direkt an der Straße und in zahl­lo­sen Neben­stra­ßen fin­den sich hun­derte von Hotels – viele davon her­un­ter­ge­kom­men, dafür aber sehr bil­lig. Der Por­tier mei­nes Hotels infor­mierte mich gleich von einem Ange­bot für eine über­teu­erte Raja­sthan-Reise. Dies­mal ohne mich! Ich wollte so schnell wie mög­lich wie­der raus aus Delhi und den nächst­mög­li­chen Zug nach Jai­pur buchen.

Am Bahn­hof wim­melte es von zwie­lich­ti­gen Gestal­ten. Ihre Dreis­tig­keit machte mich sprach­los. Der erste wollte mich davon über­zeu­gen, Tou­ris­ten müss­ten sich vor einer Bahn­fahrt am Con­aught Place regis­trie­ren und könn­ten auch nur dort Tickets erste­hen. Da hätte ich dann gleich noch eine Reise auf das Haus­boot in Kasch­mir mit mei­nen gelieb­ten Freun­den buchen kön­nen. Doch er ver­si­cherte mir, er handle aus rei­ner Men­schen­liebe und hatte die benö­tig­ten For­mu­lare zur Hand. Kaum hatte ich ihn abge­schüt­telt, tauchte der Nächste „Hel­fer“ auf, der mir weis­machte, man dürfe den Bahn­hof nicht ohne gül­ti­ges Ticket betre­ten. Als ich auch ihm nicht auf den Leim gegan­gen war, wollte mir ein ande­rer Mann ein­re­den, dass das Tou­rist Office an die­sem Tag geschlos­sen sei. Den Vogel schoss der ab, der behaup­tete, das Büro sei abge­brannt. Es fiel mir schwer zu fas­sen, wie skru­pel­los und pro­fes­sio­nell sie mir ins Gesicht logen. Letzt­lich ließ ich mich nicht völ­lig ver­un­si­chern und erstand mein Ticket nach Jaipur.

In der War­te­zeit bis zum Abend machte ich einen Abste­cher nach Old Delhi. Es war ein Fest für die Netz­haut. Nie zuvor hatte ich sol­che Men­schen­masse gese­hen und das immer­wäh­rende Ver­kehrs­chaos war an Wahn­sinn kaum zu über­bie­ten! Autos, Rik­schas, Motor­rol­ler, Och­sen­kar­ren, berit­tene Ele­fan­ten, streu­nende Kühe und Fuß­gän­ger ver­ur­sa­chen ein unbe­schreib­li­ches Chaos auf den Stra­ßen. Es hat mich immer fas­zi­niert, das die­ses »Sys­tem« funk­tio­niert, ohne dass es alle zwei Sekun­den einen Unfall gibt. Für den Unein­ge­weih­ten herrscht blanke Anar­chie und es gehört eine große Por­tion Fata­lis­mus dazu, sich keine Sor­gen um die ver­blie­bene Lebens­dauer zu machen.

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Doch inzwi­schen emp­fand ich auch eine irre Freude, Teil die­ses Chaos zu sein. Die Geräusch­ku­lisse von all­ge­gen­wär­ti­ger Musik, eine Mischung aus Hin­di­pop und klas­si­scher indi­scher Musik, dem end­lo­sen Hupen (auf jedem Truck prangt die unnö­tige Auf­for­de­rung please horn!), den Tem­pel­glo­cken und des Markt­ge­feil­sches wirkte auf mich betö­rend, über­malt von den knall­bun­ten Far­ben der Saris. Der Geruch war jedoch stark gewöh­nungs­be­dürf­tig, eine Mischung aus wider­li­chem Gestank nach Fäka­lien, Schweiß und Abga­sen und gleich­zei­ti­gen Wohl­ge­rü­chen von Gewür­zen und San­del­holz stie­gen in meine Nase.

Oft konnte ich nur schwer nach­voll­zie­hen, dass Men­schen unter sol­chen Bedin­gun­gen leben kön­nen. Doch hier käme kaum einer auf die Idee, sich über die Zustände zu beschwe­ren. Eine impo­nie­rende Gleich­mut und Gelas­sen­heit scheint den Indern zu Eigen. In die­sen Momen­ten spürte ich, wie weit ich mich von allem Bekann­ten ent­fernt hatte. Ich hatte meine Fas­sung längst auf­ge­ge­ben. Indien sprengte mit sei­ner Reiz­über­flu­tung meine Vor­stel­lungs­kraft fortwährend.

Zurück in Pahar­ganj traf ich Craig wie­der, den ich beim Ticket­kauf ken­nen­ge­lernt hatte und der im sel­ben Zug nach Jai­pur gelan­gen würde. Ich war froh, nicht schon wie­der alleine unter­wegs zu sein.

Nun saß ich also in der indi­schen Eisen­bahn auf dem Weg von Delhi nach Jai­pur. In Win­des­eile kamen die Ein­hei­mi­schen ins Gespräch mit mir. Die Neu­gier an mei­ner Per­son war rie­sig. Sie frag­ten mich, warum ich nach Indien gekom­men war und was ich hier suchte; warum ich in mei­nem Alter noch nicht ver­hei­ra­tet sei und warum ich mich soweit von mei­ner Fami­lie und mei­nen Freun­den ent­fernt hatte. Eine Reise, um andere Kul­tu­ren ken­nen zu ler­nen, lag für die Meis­ten außer­halb ihrer Vor­stel­lungs­kraft. Mehr noch – bei der Bedeu­tung von Fami­lie in der indi­schen Gesell­schaft – erschien es ihnen ver­rückt, so weit von zuhause ent­fernt alleine durch die Gegend zu zie­hen. Das min­derte ihr Inter­esse nicht und sie sag­ten, sie seien stolz, dass ich ihr Land bereiste.

Fas­zi­niert betrach­tete ich das Trei­ben der flie­gen­den Händ­ler, die Mahl­zei­ten, Snacks, Tee, Kaf­fee, Hygie­ne­pro­dukte, sinn­lo­sen Kitsch, Maga­zine oder Bücher im Ange­bot hat­ten. Einige zogen durch die Abteile, andere Geschäfte wur­den in Sekun­den­schnelle durch die Zug­fens­ter abge­wi­ckelt. Der Blick aus dem Fens­ter berei­tete mir oft Unbe­ha­gen. Viele Men­schen hat­ten sich am Rande der Eisen­bahn­gleise ange­sie­delt und kämpf­ten dort um eine beschei­dene Existenz.

 

Jai­pur

Am Bahn­hof von Jai­pur wur­den wir von zwei jun­gen Rik­scha­fah­rern ange­spro­chen. Sad­dam und Raja waren uns behilf­lich, ein bil­li­ges Hotel zu fin­den. Wir luden sie anschlie­ßend zu einem Bier ein. Sie erklär­ten uns, sie woll­ten kein Geld für ihre Dienste, son­dern sie seien nur daran inter­es­siert, aus­län­di­sche Freunde finden.

Craig fuhr am nächs­ten Mor­gen nach Push­kar wei­ter, um den Camel Fair, einen gigan­ti­schen Kamel­markt zu sehen. In sei­ner Hei­mat Aus­tra­lien ver­diente er sein Geld mit Kamel­tou­ren in der Nähe von Perth und er freute sich wie ein Kind auf das Fest. Ich beschloss bald nach­zu­kom­men, um mir ein eige­nes Bild zu machen.

Die bei­den jun­gen Män­ner tauch­ten wie­der auf und ich ver­ein­barte mit ihnen eine Fahrt zu den Sehens­wür­dig­kei­ten der Stadt. Beson­ders in Raja­sthan sind viele Stra­ßen­ab­schnitte in erschre­cken­dem Zustand: Das Abwas­ser läuft über­ir­disch am Rande der Straße ent­lang, bei star­kem Regen lau­fen die Kanäle über.

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Die Ein­hei­mi­schen schei­nen die chao­ti­schen Stra­ßen­ver­hält­nisse gar nicht wahr­zu­neh­men. Neben sehr bau­fäl­li­gen Gebäu­den erin­nern ältere Prunk­bau­ten an glanz­volle Zeiten.

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Das erzeugt einen span­nen­den, aber auch ver­stö­ren­den Kon­trast. Unwill­kür­lich fragte ich mich, wie es mög­lich war, dem offen­sicht­li­chen Zer­fall der Bau­sub­stanz zuzu­se­hen. Inne­res Gleich­ge­wicht schien über rei­nen Äußer­lich­kei­ten zu ste­hen, die dadurch keine grö­ßere Bedeu­tung besa­ßen. Gerade diese Ein­stel­lung sprach mich an. In der west­li­chen Kul­tur erlebte ich es oft umge­kehrt. Es kam mir so vor, als sei es wich­ti­ger, den äuße­ren Schein zu wah­ren, als sich mit der eige­nen Per­son und sei­nem Wir­ken aus­ein­an­der zu set­zen. Doch auch in Indien wird Mate­ria­lis­mus immer wichtiger.

Die tou­ris­tisch bedeut­sa­men Orte zie­hen Schlep­per und Betrü­ger an – was dazu führt, dass man ihre Zahl leicht über­schätzt neben all den ehr­wür­di­gen und gast­freund­li­chen Men­schen. Lei­der waren mit den ein­fa­chen Men­schen Gesprä­che oft nur rudi­men­tär mög­lich auf­grund ihrer ein­ge­schränk­ten Eng­lisch­kennt­nisse und mei­nem Schei­tern, mehr als ein paar wenige Worte Hindi aufzuschnappen.

Zual­ler­erst besich­tig­ten wir den „Mon­key Temple“. Er liegt auf einer klei­nen Anhöhe und die auf ihm leben­den Affen wer­den als hei­lig ver­ehrt. Von oben bot sich ein umfas­sen­der Blick auf die Stadt. Danach steu­er­ten wir die »rosa­rote Stadt« im Zen­trum Jai­purs an. Wahr­zei­chen der Stadt ist der „Palast der Winde“ – ein Teil des Stadt­pa­las­tes. Er besteht heute nur noch aus einer Fas­sade mit klei­nen Bal­kons und Erkern. Der Bau diente den Frauen des Harems dazu, das Leben auf den Stra­ßen zu beob­ach­ten, ohne selbst gese­hen zu wer­den – denn das war ihnen verboten.

Die Innen­stadt schien mir ein ein­zi­ger gro­ßer Bazar zu sein und die Händ­ler waren selbst für indi­sche Ver­hält­nisse sehr auf­dring­lich. Das Ver­kehrs­auf­kom­men ist enorm. Jai­pur hat 2,5 Mil­lio­nen Ein­woh­ner und ist als Han­dels- und Wirt­schafts­zen­trum die wohl­ha­bendste Stadt Raja­st­hans. Gleich­zei­tig zählt sie zu den fünf­und­zwan­zig am schnells­ten wach­sen­den Städ­ten der Welt und als einer der leben­digs­ten Han­dels­plätze Asiens.

Raja und Sad­dam woll­ten mir ihren Onkel vor­stel­len. Ich hatte ein ungu­tes Gefühl, doch ich wollte ihnen ver­trauen. Außer­dem fiel es mir sehr schwer, mich aus kon­fron­ta­ti­ven Situa­tio­nen her­aus­zu­win­den. Die end­lose Fahrt durch ver­win­kelte Stra­ßen und immer ärm­li­chere Vier­tel erhöhte das Grim­men in mei­nem Bauch. Wir fuh­ren weit außer­halb der tou­ris­ti­schen Gebiete von Jai­pur. Ich hatte nicht den blas­ses­ten Schim­mer, wo ich mich befand. Schließ­lich erreich­ten wir wie­der ein wohl­ha­ben­de­res Vier­tel. Der »Onkel«, Krishna, arbei­tete in einem Juwe­lier­la­den. Ich blickte in seine wachen und intel­li­gen­ten Augen und nach­dem wir einige Sätze aus­ge­tauscht hat­ten, war ich mir sicher, dass er mich ein­wi­ckeln wollte. Krishna machte einen sehr selbst­be­wuss­ten Ein­druck und ich mahnte mich zur Vor­sicht. Er sagte zu mir, er würde nicht jeden zu sich ein­la­den, aber ich sei herz­lich auf­ge­for­dert, mit ihm zu kom­men und mit ihm gemein­sam zu essen. Die Neu­gier war stär­ker als das Gefühl, dass ich mich in eine unge­müt­li­che Situa­tion begab, und ich wil­ligte ein. Zumal es schwer gewe­sen wäre, die Ein­la­dung abzu­leh­nen, ohne belei­di­gend zu sein. Mir war sehr wich­tig, Nie­man­den vor den Kopf zu sto­ßen. Ich zahlte noch immer Lehr­geld für meine Gut­gläu­big­keit und ich hatte immer noch kein Gefühl dafür ent­wi­ckelt, die Men­schen zu ent­de­cken, dir mir wirk­lich gut taten.

Krishna brachte mich in ein Haus, in dem er ein Apart­ment nutzte, dass von einem hol­län­di­schen Pär­chen bewohnt wurde. So wie sie durch die Woh­nung husch­ten, war offen­sicht­lich, dass sie unter sei­nem Ein­fluss stand. Ich hatte den Ein­druck, sie seien Junkies.

Er begann, mir sehr durch­dachte Fra­gen über mei­nen Auf­ent­halt in Indien zu stel­len: Warum ich gekom­men sei, wie ich Indien erlebt hatte und was mir für meine Zukunft vor­schwebte. Ich trank mein Bier mög­lichst lang­sam, weil mir klar war: Das dicke Ende kommt noch. Die Fra­gen steu­er­ten auf ein bestimm­tes Ziel zu. Zwei grim­mige Män­ner kamen hinzu. Dann begann Krishna von Geschäf­ten zu reden. Er habe einige Juwe­lier­ge­schäfte in Europa und suche jeman­den, dem er ver­trauen könne und der für ihn Juwe­len außer Lan­des brin­gen könnte. Sein Wunsch sei, eine lang­fris­tige Zusam­men­ar­beit zu ent­wi­ckeln. Der Trans­port über die Grenze sei kein Pro­blem. So könne ein Tou­rist Waren im Wert von 10 000 € aus­füh­ren – in Wirk­lich­keit sind es weni­ger als 500 €. In Europa müsse ich sie nur einem Kon­takt­mann über­ge­ben. Dafür würde ich eine saf­tige Prä­mie einstecken.

Sehr freund­lich dankte ich ihm für sein groß­zü­gi­ges Ange­bot, ver­si­cherte ihm jedoch: »I am not a busi­ness man and I will never be!« Ich bot ihm an, für das spen­dierte Bier zu zah­len, das Essen war zu die­sem Zeit­punkt ohne­hin kein Thema mehr. Er gab nicht gleich auf, son­dern ver­suchte wei­ter, mir unser Geschäft schmack­haft zu machen. Irgend­wann gab er sich jedoch zufrie­den, er spürte, dass er bei mir nur mit Geduld weiterkam.

Wie ich spä­ter erfuhr, han­delt es sich bei die­ser Betrü­ge­rei um einen Dau­er­bren­ner in Raja­sthan. Beson­ders in Jai­pur, dem Zen­trum der Edel­stein­in­dus­trie Indi­ens. Das Sys­tem funk­tio­niert seit Jahr­zehn­ten so: Der »Freund« – häu­fig ein Rik­scha­fah­rer – bringt die Fahr­gäste unter einem Vor­wand in einen Juwe­lier­la­den und bekommt dafür bereits eine Pro­vi­sion, die sich je nach Grad des ein­ge­fä­del­ten Deals wei­ter stei­gern kann. Nun hängt alles am Geschick des Ver­käu­fers. Er ver­sucht, die Tou­ris­ten zur Teil­nahme an einem angeb­lich fabel­haf­ten Geschäft zu ani­mie­ren. Es wer­den phan­tas­ti­sche Gewinne von meh­re­ren hun­dert Pro­zent ver­spro­chen. Das Geschäft wird als völ­lig risi­ko­los dar­ge­stellt und zur Unter­maue­rung wer­den dem Käu­fer Adres­sen und gerne auch Visi­ten­kar­ten von Händ­lern in des­sen Hei­mat genannt, die die Steine zum dop­pel­ten Preis sofort kau­fen wür­den. Es wird einem vor­ge­gau­kelt, der indi­sche Lie­fe­rant und sein euro­päi­scher Kunde bräuch­ten nur einen Kurier, der die Ware gegen eine hohe Pro­vi­sion durch den Zoll trans­por­tiert, um die Gebüh­ren zu umge­hen. Der Schock erwar­tet den Betro­ge­nen dann spä­tes­tens in Europa, wenn er fest­stellt, dass die Qua­li­tät sei­ner Ware nicht den Ver­spre­chun­gen ent­spricht. Ich hatte für mei­nen Teil bereits meine Erfah­run­gen in Kasch­mir gemacht und geld­gie­rig war ich glück­li­cher­weise noch nie.

Und die Masche erscheint mir noch ver­hält­nis­mä­ßig human. In Agra gab es län­gere Zeit die miese Abzo­cke, einen Gast in einem Restau­rant absicht­lich zu ver­gif­ten. Der plötz­lich auf­tau­chende „Hel­fer“ sorgte dafür, dass sich der Zustand auch im Kran­ken­haus nicht bes­serte, son­dern erst dann, wenn der Tou­rist aus­ge­mol­ken war.

Da ich die unbe­grün­dete Sorge hatte, in Push­kar wegen dem Fes­ti­val kein Zim­mer zu bekom­men, nahm ich jedoch seine Hotel­emp­feh­lung an; es hatte Auf­nahme im Lonely Pla­net gefun­den. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich dar­auf etwas gab. Um grund­le­gende Infor­ma­tio­nen über einen Ort zu erhal­ten, mochte der Rei­se­füh­rer ganz hilf­reich sein. Doch die Bewer­tun­gen waren sel­ten etwas wert. Zu viele Men­schen reis­ten damit, so dass die Hotels und Restau­rants oft über­füllt waren und man sich einen Dreck darum scherte, ob das Hotel ver­kam. Die Emp­feh­lung allein brachte genug Touristen.

Nach­dem meine Reise in Indien so schwie­rig begon­nen hatte, war ich weit von mei­nem inne­ren Gleich­ge­wicht ent­fernt und hatte oft das Gefühl, nur auf das reagie­ren zu kön­nen, was ohne­hin mit mir pas­sierte. Es war als folgte ich einem Befehl, den ich mir selbst auf­er­legt hatte – näm­lich um jeden Preis durch­zu­hal­ten – ganz gleich, was auch gesche­hen mochte. Meine »Freunde« – die jun­gen Rik­scha­fah­rer – woll­ten jetzt doch Geld, nach­dem die Num­mer mit ihrem Onkel nicht zum erhoff­ten Erfolg geführt hatte. So war ich stän­dig in Ver­hand­lun­gen, die ich nicht füh­ren wollte, anstatt mich deut­lich von der Über­grif­fig­keit der Nep­per zu distanzieren.

 

Push­kar Festival

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Von Jai­pur reiste ich im Bus wei­ter nach Push­kar, wo der Kamel­markt statt­fand. Inner­halb einer Woche wech­seln zehn­tau­sende Kamele den Besit­zer. In den letz­ten Jah­ren ist das Spek­ta­kel auch unter Tou­ris­ten immer popu­lä­rer geworden.

Das Hotel, das mir Krishna emp­foh­len hatte machte erst mal einen guten Ein­druck. Dort traf ich Frank – einen Fin­nen, mit dem ich mich auf Anhieb gut ver­stand. Er war schon län­ger in Push­kar und er nahm mich gleich mit, so dass ich mir ein ers­tes Bild von dem bun­ten Trei­ben in der Stadt ver­schaf­fen konnte. Die Geschäfte und Stra­ßen in der Stadt waren reich und bunt deko­riert. 150 000 Men­schen waren auf den Stra­ßen unter­wegs, die eigent­lich auf die knapp 20 000 Men­schen aus­ge­legt sind, die nor­ma­ler­weise in der Klein­stadt am Rande der Wüste leben. Wäh­rend der Fei­er­lich­kei­ten ist Push­kar nichts für Men­schen, die unter Platz­angst lei­den. Auch ich fühlte mich sehr beengt. Alles wurde immer frem­der. Raja­sthan wirkte nach dem mus­li­mi­schen Kasch­mir und dem tibe­tisch gepräg­ten Dha­ramsala sehr ori­en­ta­lisch. Einer­seits genoss ich diese wech­seln­den Impres­sio­nen sehr – doch mir ging alles zu schnell und ich fand zu wenig Zeit zum Durch­at­men und das Erlebte zu verarbeiten.

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In und um Push­kar sam­meln sich jedes Jahr die Kamel­be­sit­zer und deren Fami­lien. Dazu gesel­len sich unzäh­lige Neu­gie­rige, Schau­stel­ler, Klein­künst­ler, Züch­ter, Gauk­ler, Händ­ler, Noma­den, Schlan­gen­be­schwö­rer, ein­hei­mi­sche und aus­län­di­sche Foto­jä­ger, Händ­ler, Tän­zer, Musi­ker und unzäh­lige Andere, die dem Ruf des Fes­tes nach Push­kar gefolgt waren. Auch das indi­sche Fern­se­hen war ver­tre­ten. Abends wur­den tra­di­tio­nelle Tänze auf­ge­führt und es gab ver­schie­dene Wett­be­werbe. Beson­ders skur­ril war der Wett­be­werb um den schöns­ten Bart.

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Nach sie­ben Tagen wür­den die Händ­ler wie­der in ihre Hei­mat in Indien, Paki­stan oder den Golf­staa­ten zie­hen und in Push­kar würde wie­der Frie­den einkehren.

Für mich war der Auf­ent­halt eine bizarre Erfah­rung. Ich fühlte mich, als wäre ich auf einem ande­ren Pla­ne­ten gelan­det. Es fiel mir schwer, mich auf das Fest ein­las­sen und blieb distan­zier­ter Beobachter.

In die­sem Jahr war das Fes­ti­val klei­ner als gewöhn­lich, da auf­grund der all­ge­mei­nen Dürre in Raja­sthan nicht genug Was­ser zum Trän­ken der Tiere zur Ver­fü­gung stand.

Push­kar ist eine beson­dere Stadt für die Hin­dus. Gläu­bige pil­gern aus ganz Indien hier­her, um sich im hei­li­gen Push­kar­see zu baden. Der Legende zufolge ließ der Schöp­fer­gott Brahma ein Lotus­blatt auf die Erde fal­len. An der Stelle, an der die drei Lotus­blü­ten zu Boden fie­len, ent­sprang mit­ten in der Wüste Was­ser. Push­kar (Sans­krit für Lotus­blüte) war ent­stan­den. Der See ist bis heute eine von Indi­ens hei­ligs­ten Stät­ten. Beson­ders im Oktober/​November, wäh­rend einer Glück ver­hei­ßen­den Voll­mond­phase, soll ein Bad die Seele von allen Ver­feh­lun­gen rei­ni­gen und die Pil­ger strö­men in die Stadt. Gleich­zei­tig fin­det auch der Kamel­markt statt.

In die­sem Jahr war der See völ­lig aus­ge­trock­net und man hatte für die Pil­ger einen Swim­ming­pool aus Plas­tik im tro­cke­nen See auf­ge­stellt, was äußerst merk­wür­dig auf mich wirkte, aber von den Pil­gern offen­sicht­lich akzep­tiert wurde. Sad­hus (Aske­ten) geben den Tou­ris­ten gegen eine Spende Lotus­blü­ten, die man in den See wirft, was Glück ver­hei­ßend ist. Wenn man sich bedrän­gen lässt, kann man sich auch zu einer grö­ße­ren Spende genö­tigt fühlen.

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Ich ließ mich von Frank über­re­den, einen der berühmt-berüch­tig­ten Bhang lassi zu pro­bie­ren. Dies ist ein Getränk aus den getrock­ne­ten Blät­tern und klei­nen Blü­ten­stän­den der Can­na­bis-Pflanze. Die Pflan­zen­teile wer­den zu einer knet­ar­ti­gen Masse ver­dickt und anschlie­ßend in Milch zer­sto­ßen. In Jaisal­mer und Var­a­nasi gibt es sogar von der Regie­rung auto­ri­sierte Shops, die Bhang ver­kau­fen dür­fen. Mir war jedoch nicht bekannt, dass spe­zi­ell der Bhang Lassi zu extre­mer Para­noia füh­ren kann, was auch daran liegt, dass manch­mal Stech­ap­fel bei­gemischt wird. Und wie hieß es so schön bei Fear and Loathing in Las Vegas: »Das war kein guter Ort für psy­che­de­li­sche Drogen…«

Wenn ich mir die Ori­gi­nal­zei­len von die­sem Abend so anschaue, lesen sie sich stel­len­weise wie der Bericht eines Wahn­sin­ni­gen, der aus dem Gefäng­nis aus­bre­chen will und sehen auch so aus. Als die Wir­kung ein­setzte, stei­gerte sich die emp­fun­dene Reiz­über­flu­tung noch um ein Viel­fa­ches. Viel zu viele Ein­drü­cke pras­sel­ten auf mich ein und ich konnte sie unter dem Ein­fluss der Droge nicht mehr ver­ar­bei­ten. Mich über­kam mas­sive Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit. Da Frank gut und gerne das dop­pelte Kör­per­ge­wicht auf die Waage brachte, war er auf­grund der lang­sa­me­ren Meta­bo­li­sie­rung noch recht guter Stim­mung, als ich bereits tief in Para­noia ver­sun­ken war. Ich fühlte mich, als hätte ich kei­nen fes­ten Boden mehr unter den Füßen. Frank amü­sierte sich bei unse­rem Gang durch die hoff­nungs­los über­füllte Stadt herr­lich über mich und mei­nen pani­schen Gesichts­aus­druck und kriegte sich kaum ein vor Lachen. Ich emp­fand die Situa­tion als weit­aus weni­ger amü­sant. Und auch ihm gelang es nicht mehr, den Weg zu unse­rem Hotel zu fin­den. Immer wie­der meinte er, den Weg wie­der zu erken­nen, um dann laut und schal­lend lachend zu ver­kün­den, er habe nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befin­den könn­ten und es sei ihm auch herz­lich egal. Ich wollte nur zurück ins Hotel – in eine sichere Umge­bung. Bett­ler zerr­ten an mei­nem Arm, Händ­ler bedräng­ten mich und Gyp­sies schmier­ten mir unge­fragt eine Mischung aus Kamel­dung und Henna­farbe auf die Hände, um dar­auf Man­da­las zu malen, was sie erst nach hef­ti­gem Pro­test unter­lie­ßen. Ich fühlte mich der­ma­ßen unwohl, als würde ich in einen Trich­ter von Anar­chie und Wahn­sinn gesaugt. Zu allem Über­fluss fiel auch noch der Strom aus, die Lich­ter erlo­schen und mein inne­res Chaos war per­fekt. Ich fühlte mich völ­lig verloren.

Als wir gar nicht mehr wei­ter wuss­ten, teil­ten wir uns eine Fahr­rad­rik­scha, um end­lich wie­der zurück zu fin­den. Der arme Fah­rer! Mit fast 200 kg auf der Rück­bank musste der Unglück­li­che uns den Berg rau­fra­deln. Er tat mir rich­tig leid und ich schämte mich dafür, seine Dienste in Anspruch neh­men zu müs­sen. Ich war so glück­lich, end­lich wie­der beim Hotel anzu­kom­men, dass ich ihm ein üppi­ges Trink­geld in die Hand drückte. Ich steu­erte direkt mein Zim­mer an und ver­ließ es bis zum nächs­ten Tag nicht mehr. Ich schrieb noch ein paar wirre Zei­len und ver­putzte unvor­sich­ti­ger­weise Erd­nüsse in mei­nem Bett. Am Mor­gen erwachte ich in einem Meer von Amei­sen, die ich mit den Scha­len ange­lockt hatte.

Frank schaffte es nach sei­nem Bericht noch auf die Dach­ter­rasse und konnte sich knapp zwei Stun­den nicht mehr bewe­gen und lachte ohne Pause.

Frank war ohne­hin ein ulki­ger Bur­sche. Er war sich sicher, dass ich mich für immer an seine kranke Lache erin­nern würde. Er war lange har­ter Trin­ker und Kif­fer gewe­sen. Irgend­wann hat er sich mit einem mäch­ti­gen Rocker ange­legt, weil er mal wie­der seine große Klappe nicht hal­ten konnte. Dabei hatte er so derbe Schläge abge­kriegt, dass er es fast nicht über­lebt hätte. Er sprach von »brain damage« und das war auch nicht ganz von der Hand zu wei­sen. Jeden­falls war das Gute daran, dass er das Trin­ken danach auf­ge­ge­ben hat und jetzt nur noch kiffte wie blöd.

Auf dem Rück­weg waren wir noch­mal bei der Tee­stube, wo wir am Tag zuvor den Bhang lassi zu uns genom­men hat­ten. Ich wollte nach­fra­gen, was uns der Besit­zer da kre­denzt hatte. Nach­dem er uns grin­send den rie­sen Bol­len Bhang zeigte, wun­derte mich gar nichts mehr. Der Sohn des Besit­zers meinte, er hätte wesent­lich weni­ger ver­wen­det, sein Vater habe aber gemeint, wir wür­den das schon ver­tra­gen. Der hatte gut reden, er trank nach eige­ner Aus­sage seit Jahr­zehn­ten das Zeug jeden Tag und ein Blick in seine blut­ro­ten Augen bestä­tigte das hin­rei­chend. Frank gönnte sich gleich noch einen die­ser Las­sis, mir war die Lust gründ­lich vergangen.

In unse­rem Gast­haus ver­sam­mel­ten sich jeden Abend die Besit­zer ver­schie­de­ner Gast­häu­sern Raja­st­hans auf dem roof top. Sie waren mir aus­ge­spro­chen unan­ge­nehm. Was für schmie­rige, selbst­süch­tige und arro­gante Typen! Jeden Abend betran­ken sie sich, führ­ten sich wie die Schweine auf und mach­ten den jun­gen Tou­ris­tin­nen Avan­cen. Spä­ter begriff ich, dass sie vor allem hier waren, um Tou­ris­ten in ihre jewei­li­gen Hotels zu lot­sen. Einer der Gast­haus­be­sit­zer, Suwai, erschien mir im Gegen­satz zu den Ande­ren recht sym­pa­thisch und ich hatte ver­spro­chen, mir sein Hotel Desert in Jaisal­mer anzu­se­hen, das mit äußerst güns­ti­gen Prei­sen lockte. Aller­dings warnte er mich: Es gäbe Leute, die mich vor sei­nem Hotel war­nen wür­den. Das ent­spränge ihrem Neid auf sein erfolg­rei­ches Unternehmen.

Er hatte nicht zu viel ver­spro­chen. Als ich das Büro des Bus­un­ter­neh­mens erreichte, mit dem ich nach Jaisal­mer wei­ter­rei­sen wollte, tauchte sofort ein Frem­der auf und warnte mich ein­drück­lich davor, im Hotel Desert abzu­stei­gen. Dabei hatte ich mein Ziel über­haupt nicht erwähnt. Das ist der Stoff, aus dem Para­noia gespon­nen ist!

Gele­gent­lich hatte ich den Ein­druck, dass Indien mich mit Haut und Haa­ren ver­schlin­gen würde. Es gab kaum Pri­vat­sphäre. Eigent­lich hätte ich mir die Zeit neh­men müs­sen, um einen siche­ren und ange­neh­men Ort zu fin­den, wo ich wie­der etwas zu mir fand. Doch ich fühlte mich getrie­ben und wollte vor­an­kom­men. Manch­mal fürch­tete ich in die­sen Tagen, ich würde ver­rückt wer­den und hatte kei­nen blas­sen Schim­mer, wem ich wohl noch ver­trauen konnte. Das kos­tete unheim­lich viel Kraft. Aber wie schrieb ein guter Freund so schön:

„Wenn du das Gefühl hast, alles fliegt dir um die Ohren und eine fremde Kraft, die sich dei­ner Kon­trolle längst ent­zo­gen hat, spült dich durch das Land und die Leute, dann halte kurz inne. Genieße diese Kraft, atme sie, schme­cke sie, das ist der Zau­ber, das ist das, was dich süch­tig macht und was du ver­mis­sen wirst. Chaos und Krea­ti­vi­tät, Unbe­re­chen­bar­keit in jeder Hin­sicht. Ver­su­che das zu durch­drin­gen und zu verstehen.“

Das gelang mir nur sel­ten. Ich war voll­auf damit beschäf­tigt, grenz­pa­ra­noid durch das Land zu stol­pern. Meine lang ersehnte Reise war zu einem ein­sa­men Durch­hal­te­ma­ra­thon ver­kom­men. Nur mein Stolz hatte mich davon abge­hal­ten, die Reise abzu­bre­chen. Mir waren dunkle Schat­ten aus mei­ner Ver­gan­gen­heit wie­der­be­geg­net. Es war mir nicht gelun­gen, mich abzu­gren­zen. Doch trotz und sogar inmit­ten kata­stro­pha­ler Erfah­run­gen in einem Land, das mich stän­dig über­for­derte, hatte ich eine Liebe zu den Men­schen und dem unbe­schreib­li­chen Wahn­sinn um mich herum ent­wi­ckelt. Ich spürte, dass mich diese instink­tive, schein­bar absurde Liebe nie wie­der los­las­sen würde. Die abgrund­tie­fen Kon­traste hat­ten mich ange­zo­gen und abge­sto­ßen, die Men­schen ver­wirrt und begeis­tert, die bit­tere Armut erschüt­tert und die Hoff­nung gerührt. Die offen­sicht­li­chen Unge­rech­tig­kei­ten waren für mich schwer aus­zu­hal­ten. Das Kas­ten­sys­tem ist längst ver­bo­ten, aber es wirkt nach. Noch immer wer­den Men­schen bru­tal aus­ge­beu­tet und schi­ka­niert. Die Kor­rup­tion stinkt zum Him­mel. Die hygie­ni­schen Bedin­gun­gen für die Armen sind oft kata­stro­phal und das Bil­dungs­sys­tem bie­tet kaum Auf­stiegs­chan­cen. Doch an glei­cher Stelle erlebte ich Gast­freund­schaft, Güte, unbän­di­gen Lebens­mut und eine unglaub­li­che Viel­falt ver­schie­de­ner Reli­gi­ons­grup­pen und Völ­ker. Das hatte in der Ver­gan­gen­heit immer wie­der zu fürch­ter­li­chen Pogro­men geführt und doch muss man stau­nen, in welch rela­ti­vem Frie­den und Koexis­tenz so unter­schied­li­che Men­schen selbst­ver­ständ­lich mit­ein­an­der leben. Indien ist ein rie­si­ger Schmelz­tie­gel. Das Chaos einer dau­er­haf­ten Reiz­über­flu­tung für alle Sinne hatte mich unter sich begra­ben, aus­ge­spuckt und dann wie­der zu einem schel­mi­schen Grin­sen verführt.

Das Land war so ambi­va­lent wie ich selbst und hielt mir stän­dig den Spie­gel vor. Ich hatte mich manch­mal gefühlt, als wäre ich in einen Sog gera­ten, der mich in die Tiefe zu zie­hen drohte und doch unwi­der­steh­lich war. Der Sog war zu schnell, zu mäch­tig, er machte mir Angst, aber er eröff­nete mir auch unbe­kannte Wel­ten. Die­ses ursprüng­li­che, unbän­dige Leben mit all sei­ner Wucht war etwas, was mich für immer gefan­gen neh­men sollte. Diese Kraft ver­misste ich nach mei­ner Rück­kehr und die Ord­nung und Stille in unse­ren Brei­ten kam mir dann wie der Tod vor.

Den­noch waren die Mails von Freun­den und Fami­lie in die­sen Tagen sehr wich­tig und haben mir immer wie­der Kraft gege­ben. Sie waren meine ein­zige Brü­cke zu mei­nem alten Leben.

 

Jaisal­mer

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Es folgte die nächste Fahrt in einem die­ser herr­li­chen indi­schen Busse, die in Europa vor 30 Jah­ren aus­ge­mus­tert wor­den wären. Sie mach­ten in aller Regel kei­nen ver­trau­ens­er­we­cken­den Ein­druck. Über den Sitz­plät­zen gibt es einige Boxen, in denen man sich aus­stre­cken und schla­fen kann. Ich reiste fast immer nachts, um Zeit und Geld zu spa­ren. Nun hatte ich zum ers­ten Mal das zwei­fel­hafte Ver­gnü­gen, in so einem »Slee­per« zu rei­sen. Für mich war die Lie­ge­flä­che jedes Mal ein paar Zen­ti­me­ter zu kurz, so dass ich mich nicht ganz aus­stre­cken konnte. Doch es war mir immer noch deut­lich lie­ber, als die ganze Nacht zu sit­zen. Aus­nahms­weise exis­tierte hier ein Vor­hang zum Flur des Bus­ses, so dass mich kei­ner sehen konnte. Diese Frei­heit nutzte ich dazu, bei weit geöff­ne­tem Fens­ter einen Joint zu rau­chen. Aus dem Fens­ter konnte ich bereits die Thar-Wüste sehen.

Mir gefiel der erha­bene Blick aus dem »zwei­ten Stock«. Da die Busse in jeder noch so klei­nen Ort­schaft hal­ten, um Men­schen ein­zu­sam­meln und aus­zu­spu­cken oder für kurze Pau­sen zum Essen, bekommt man Ein­bli­cke in den All­tag der Men­schen. Jeder Mil­li­me­ter im Bus wird genutzt. Neben ton­nen­weise Waren sind auch leben­dige Hüh­ner an Bord. So bes­sern die Bus­fah­rer ihr mick­ri­ges Gehalt auf, auch die Rei­sen­den brin­gen so Begehr­tes aus der Stadt in ihre Dör­fer. Ein Belas­tungs­test für jede Achse. Oft war ich der ein­zige Aus­län­der. Das war für mich ein beson­de­rer Reiz.

Kaum in Jaisal­mer ange­kom­men, ging es mit dem Wahn­sinn wei­ter. Kurz vor der Ankunft rannte ein Mann hek­tisch durch den Bus, klopfte an jede Scheibe, und bläffte hin­ein: »Don’t trust the peo­ple from Hotel Desert«. In die­sem Moment fragte ich mich ob die Gau­ner im Hotel Desert sit­zen oder die sind, die vor ihnen war­nen. Oder waren alle Gau­ner? Jeden­falls wurde ich am Bus­bahn­hof bereits von einem Ange­stell­ten des Hotel Desert erwar­tet und fuhr mit gemisch­ten Gefüh­len zum Hotel. In die­sem Fall war es mir lie­ber, als mich mit der aggres­si­ven Meute aus­ein­an­der­zu­set­zen, die sich am Bus­bahn­hof ver­sam­melt hatte, um einen Schnitt zu machen. Das Ein­zige was mich wun­derte war, dass man mir nicht das Gepäck aus der Hand riss und mich forttrug.

Jaisal­mer ist eine Stadt inmit­ten der Wüste Thar, die sich bis ins 100 km ent­fernte Paki­stan zieht. Beson­ders ein­drucks­voll ist das Fort. Es wurde 1156 vom Fürs­ten Rawal Jai­sal auf einem 120 Meter lan­gen und 500 Meter brei­ten Fel­sen aus gelb­brau­nem Sand­stein erbaut. Daher wird Jaisal­mer auch als »die gol­dene Stadt« bezeichnet.

Das »Hotel Desert« befand sich direkt in einer der mäch­ti­gen Mau­ern des Forts. Aus mei­nem Fens­ter konnte ich auf die umlie­gende Stadt und in die Wüste sehen.

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Die Archi­tek­tur von Jaisal­mer ist über­wäl­ti­gend. Beson­ders die Resi­denz der Fürs­ten­fa­mi­lie, die spä­ter zu Maha­ra­dscha-Ehren kam, die fili­gra­nen Jaina-Tem­pel und die Have­lis (Kauf­manns­häu­ser) sind atemberaubend.

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Jaisal­mer war einst eine wich­tige Sta­tion auf der Sei­den­straße und grün­dete dar­auf ihren Reich­tum. Die Kara­wa­nen leg­ten hier einen Stopp auf der Über­land­route zwi­schen Zen­tral­asien und Delhi ein und Jaisal­mer war ein wich­ti­ger Umschlag­platz für Seide, Opium und Gewürze. Die Stadt wirkt wie eine »Fata Mor­gana« – die Mär­chen aus »Tau­send und eine Nacht« wer­den leben­dig. Frü­her spielte sich nur Leben inner­halb sei­ner Mau­ern ab. Heute wuchert die moderne Stadt auch außer­halb des alten Fes­tungs­rings. Doch noch immer leben 2000 Men­schen inner­halb der Fort­mau­ern. 70 % stam­men von den Brah­ma­nen (der höchs­ten indi­schen Kaste) und 30 % von den Raj­pu­ten (der Krie­ger­kaste) ab. Daran wird deut­lich, dass das Kas­ten­sys­tems und die Abstam­mung noch immer eine Rolle spie­len – vor allem in den länd­li­chen Regionen.In ihrer Blü­te­zeit war die Stadt kaum einzunehmen.

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Der Haupt­ein­gang ist mit einer 180-Grad-Kurve ver­se­hen, so dass Ele­fan­ten den Befes­ti­gungs­ring nicht durch­schla­gen konn­ten. Auf der Mauer lie­gen rie­sige runde Steine, die man von den Mau­ern auf Angrei­fer gestürzt hat. Auch Kano­nen zeu­gen von der alten Stärke. Selbst die Armee der mus­li­mi­schen Sul­tane Delhis konnte Jaisal­mer erst 1298 nach sie­ben­jäh­ri­ger Bela­ge­rung erst­mals ein­neh­men. Doch als die Nie­der­lage fest­stand, rit­ten die Män­ner aus der Stadt in den siche­ren Tod gegen die zah­len­mä­ßig deut­lich über­le­gene Bela­ge­rungs­ar­mee. Die Frauen begin­gen ritu­el­len Selbst­mord (Johar), indem sie sich von den Mau­ern der Paläste in ent­zün­dete Schei­ter­hau­fen stürz­ten. Dadurch konn­ten sich die sieg­rei­chen Trup­pen mit­ten in der Wüste nicht wei­ter ver­sor­gen und muss­ten die Beset­zung der Stadt kurze Zeit spä­ter auf­ge­ben. Nach wei­te­ren Bela­ge­run­gen wur­den die Herr­scher über Jaisal­mer zwar ein Vasal­len­staat Delhis, doch nie­mals voll­stän­dig unterworfen.

Erst nach dem Auf­stieg der Häfen von Surat und Bom­bay büßte die Stadt ihre Stel­lung ein. Die Über­land­route ver­lor an Bedeu­tung, weil sich ein gro­ßer Teil des Waren­trans­ports auf den Schiffs­ver­kehr ver­la­gerte. Die Tei­lung der bri­ti­schen Kolo­nie in Indien und Paki­stan nahm der Stadt end­gül­tig ihre wich­tige Rolle als Han­dels­stadt. Durch die scharf bewachte Grenze wurde die Route von Paki­stan nach Indien voll­stän­dig gekappt. Der ein­zige Grenz­über­gang liegt hun­derte Kilo­me­ter wei­ter nörd­lich bei Amrit­sar. Keine hun­dert Kilo­me­ter von Jaisal­mer ent­fernt, zieht sich die Grenze hun­derte Kilo­me­ter durch die Wüste. Schmug­gel hat immer noch Bedeu­tung. Doch im Wesent­li­chen prägt heute der Tou­ris­mus die Stadt. Ähn­lich wich­tig ist die stra­te­gi­sche Lage als Grenz­pos­ten für das Mili­tär. Auch der Flug­ha­fen dient inzwi­schen nur noch mili­tä­ri­schen Zwecken.

Nach­dem drei sym­pa­thi­sche Rei­sende im Hotel ein­ge­checkt hat­ten, beschloss ich gemein­sam mit ihnen auf Kamel­sa­fari zu gehen. Eine Über­nach­tung in der Wüste wollte ich mir auf kei­nen Fall ent­ge­hen las­sen. Wir fuh­ren mit dem Jeep 60 km bis in den Desert Natio­nal Park. Hier ver­wan­delte sich die Stein- in eine Sand­wüste. Wir besich­tig­ten zunächst ein klei­nes Wüs­ten­dorf. Dann rit­ten wir über eine Stunde auf Kame­len, um den Son­nen­un­ter­gang in der Wüste zu erleben.

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Wer schon ein­mal auf einem Kamel gerit­ten ist, weiß: Das ist kein Ver­gnü­gen, son­dern ein Här­te­test für das Kno­chen­ge­rüst. Man­che wer­den sogar see­krank von dem schau­keln­den Gang der Tiere – nicht umsonst nennt man sie »Wüs­ten­schiffe«. Anschlie­ßend gab es ein Mahl und unsere drei ein­hei­mi­schen Beglei­ter spiel­ten ori­en­ta­li­sche Klänge auf Trom­meln und einem ein­fa­chen Sei­ten­in­stru­ment. Beein­druckt hat mich dabei einer mei­ner Beglei­ter – ein Fran­zose. Durch Rei­sen in der alge­ri­schen Wüste, der seine Vor­fah­ren ent­stamm­ten, kannte Akim die Wüste gut. Bei einem Motor­rad­un­fall hatte er vor Jah­ren ein Bein ver­lo­ren. Doch er hatte sich zurück ins Leben gekämpft und ließ sich nicht vom indi­vi­du­el­len Rei­sen in die ent­le­gens­ten Län­der abbrin­gen. Nun tanzte er aus­ge­las­sen auf einem Bein. Ich bewun­derte, wel­che Kraft sein Lebens­mut hatte.

Wir über­nach­te­ten auf Decken direkt auf dem Wüs­ten­bo­den und waren von einer himm­li­schen Ruhe umge­ben. Ich sog sie tief in mich ein. Es war Voll­mond und bei mei­ner klei­nen Wan­de­rung über den Sand fühlte ich mich, als würde ich über den Mond lau­fen. Nur war ich nicht schwe­re­los. Im Gegen­teil – es war ziem­lich anstren­gend zu lau­fen, wäh­rend ich immer tie­fer in den Boden ein­sank. Durch die Hel­lig­keit des Mon­des war die ganze Sze­ne­rie fast tag­hell erleuch­tet. Ich fühlte mich von der Weite der Wüste magisch ange­zo­gen. In mei­nen neu erwor­be­nen wei­ßen Gewän­dern und mit dem inzwi­schen lan­gen Bart sah ich auch aus wie ein Wüstensohn.

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Seit 1986 wird Was­ser über den 500 Kilo­me­ter lan­gen Raja­sthan-Kanal vom Pun­jab aus nach Jaisal­mer gelei­tet. Erst dadurch wurde mehr land­wirt­schaft­li­che Nut­zung mög­lich. Mit der Bewäs­se­rung ver­zehn­fachte sich die Bevöl­ke­rung und die Thar gilt als das am dich­tes­ten bevöl­kerte Wüs­ten­ge­biet welt­weit. Doch die Wüs­ten­bil­dung schreit voran. Durch Abhol­zung und Über­wei­dung kön­nen die Böden immer weni­ger Was­ser spei­chern und der Grund­was­ser­spie­gel sinkt immer wei­ter. Das ist hier beson­ders ver­hee­rend, da durch den Salz­ge­halt des Grund­was­sers keine Oasen exis­tie­ren. Bei mei­nem Besuch war der See außer­halb des Forts voll­stän­dig aus­ge­trock­net. Die Dür­ren häu­fen sich immer mehr.

Am nächs­ten Mor­gen beschloss ich, das Hotel zu wech­seln, um der Vet­tern­wirt­schaft zu ent­kom­men, in der ich mich seit Jai­pur bewegte. Bei mei­nem Aus­zug wollte mein »Freund« Suwai wis­sen, wohin es mich zog. Meine anfäng­li­che Sym­pa­thie für ihn war voll­stän­dig ver­schwun­den. Nun erschien er mir kei­nen Deut bes­ser als die ande­ren Hotel­be­sit­zer, die ich in Push­kar ken­nen gelernt hatte – näm­lich nur vor­der­grün­dig freund­lich und hin­ter der Fas­sade ein eis­kal­ter Geschäfts­mann, der sich einen Dreck für andere Men­schen inter­es­siert. Ich hatte keine Lust ihm zu sagen, wohin es mich zog. Dar­auf­hin ver­langte er mehr Geld für das Zim­mer. Aber ich ließ mir das nicht gefal­len und zahlte den ver­ein­bar­ten Preis. Inner­lich wurde ich stärker.

Doch wen sah ich keine drei­ßig Minu­ten spä­ter im neuen Hotel? Suwai. So leicht ent­kam man ihm doch nicht.

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Nach­dem mir Jaisal­mer in den ers­ten Tagen wie eine himm­li­sche Oase schien, gin­gen mir die auf­dring­li­chen Händ­ler immer stär­ker auf die Ner­ven. Man­che waren rich­tig unver­schämt und hat­ten offen­bar kein Gefühl dafür, dass ihr wenig sub­ti­les Auf­tre­ten ihre Ver­hand­lungs­po­si­tion kei­nes­wegs stärkte. Es war ein schwie­ri­ges Jahr für die Händ­ler, die Tou­ris­ten­zah­len waren ein­ge­bro­chen. Dadurch stan­den sie in gro­ßer Kon­kur­renz zueinander.

Doch zugleich liebte ich die Offen­heit der Men­schen – das war genau das, was ich in Deutsch­land so oft ver­misste. Oft blieb ich irgendwo ste­hen und unter­hielt mich zehn Minu­ten mit einem Wild­frem­den. Meis­tens ver­blie­ben diese Gesprä­che völ­lig zwang­los und wo Worte fehl­ten, ersetz­ten Ges­ten und Lächeln die Bot­schaft. Wir scherz­ten gerne über das, was uns trennte und das, was uns ver­band. Ich fühlte mich eng mit den ein­fa­chen Men­schen ver­bun­den. Sie waren nichts ande­res als meine Brü­der. Ich mochte vor allem die Gelas­sen­heit und die stoi­sche Ruhe der alten Män­ner, die sich durch nichts aus der Fas­sung brin­gen lie­ßen. Ander­seits ver­lie­fen viele Gesprä­che sehr rou­ti­niert ab. Ein wah­rer Fra­gen­ka­ta­log wurde abgefeuert:

What is your good name? Where are you from? What is your pro­fes­sion? Are you married?

Egal wie welt­of­fen man ist, wenn man diese Fra­gen das zwan­zigste Mal am Tag hört, bekommt man einen Over­kill. Außer­dem ist die Wahr­schein­lich­keit hoch, dass als nächs­tes die Ein­la­dung in den nächst­ge­le­ge­nen Shop folgt. Ich gab mir jedoch größte Mühe höf­lich zu blei­ben und ein gutes Bild abzu­ge­ben. In gewis­ser Weise ver­stand ich mich als Bot­schaf­ter. Denn ich erlebte immer wie­der unver­schämte Tou­ris­ten, die sich einen Dreck um Kul­tur und die Belange der Men­schen küm­mer­ten. Dem wollte ich etwas ent­ge­gen stel­len. Viele Rei­sende fuh­ren immer diese Schiene und gin­gen mit Tun­nel­bli­cken völ­lig unnah­bar durch die Stra­ßen. Sie igno­rier­ten alles und jeden und wur­den laut, wenn man ihnen zu nahe kam. Das wollte ich nicht, auch wenn ich wusste, wie viel ein­fa­cher ich mir das Leben hätte machen kön­nen. Schließ­lich war ich nach Indien gereist, um vor allem die Men­schen ken­nen zu ler­nen und so viel wie mög­lich über die Kul­tu­ren Indi­ens zu ler­nen. Und ich wollte die wert­vol­len Begeg­nun­gen nicht mis­sen. Oft fühlte ich mich enger mit den Ein­hei­mi­schen als mit ande­ren Rei­sen­den verbunden.

Suwai tauchte immer wie­der in mei­nem neuen Hotel auf und immer deut­li­cher kam ein uner­träg­li­cher Prah­ler zum Vor­schein. Doch was mich an die­sem gan­zen eit­len Zir­kel von Gast­haus­be­sit­zern am meis­ten abstieß, war ihre voll­stän­dige Miss­ach­tung der Men­schen, die für sie arbei­te­ten. »Ever­y­thing is pos­si­ble in India«, sag­ten sie stän­dig. Doch ihre Bediens­te­ten behan­del­ten sie wie Dreck, so als wären sie Könige. Gerne hätte ich ihnen zuge­ru­fen: »Ja, fast alles ist mög­lich, aber eben nur für euch und auf Kos­ten ande­rer!« Es machte mich zuneh­mend wütend. Denn hin­ter den Kulis­sen schuf­ten Nied­rig­löh­ner, um die Fas­sade für die Mit­tel- und Ober­schicht auf­recht zu hal­ten, für die, die es sich leis­ten kön­nen. Ich habe mich immer wie­der bemüht, das Kas­ten­we­sen zu akzep­tie­ren, da es auch von vie­len Men­schen, die unten ste­hen, als etwas Not­wen­di­ges, eine Art gesell­schaft­li­cher Ord­nung, akzep­tiert wird, aber es ist mir nicht gelun­gen. Offi­zi­ell ist das Kas­ten­we­sen abge­schafft; doch es spielt noch immer eine große Rolle im täg­li­chen Leben. Das Erbe Gan­dhis wird völ­lig missachtet.

Als ich Suwai mei­nen end­gül­ti­gen Abschied aus Jaisal­mer ankün­digte, fragte er mich, ob ich schon in Jai­pur gewe­sen sei. Als ich das bejahte, hakte er nach, ob ich nicht noch­mal hin­fah­ren wolle; er wollte mir gerne jeman­dem vor­stel­len und würde für Unter­kunft und Fahrt­kos­ten auf­kom­men. In die­sem Moment schloss sich der Kreis und ich war 100 % sicher, wen ich da wohl tref­fen würde. Das konnte nur Krishna sein, der ver­sucht hatte, mich für das Juwe­len­ge­schäft zu begeis­tern. Aus einer Laune her­aus sagte ich ihm, ich wisse ganz genau, wen er mir vor­stel­len wolle. Für einen Moment war er völ­lig baff, denn ich lag rich­tig. Suwai war ent­gan­gen, dass ich den Kreis vom Ende auf­ge­rollt hatte. Er sah vor­läu­fig ein, dass er auf Gra­nit biss. Er ver­sprach mir jedoch, ich könne ihn immer anru­fen – egal wo ich mich in Indien befände – zehn Minu­ten spä­ter sei jemand mit mei­nem Namen auf einem Schild in mei­ner Nähe. Keine wirk­lich beru­hi­gende Vorstellung!

 

Epi­log

Es erscheint völ­lig absurd, dass ich trotz­dem und erneut einem sei­ner „Tipps“ folgte und tat­säch­lich auch in Jodh­pur in dem von ihm emp­foh­le­nen Hotel abstieg.

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Es war wie­der mein ver­que­rer Stolz und meine Har­mo­nie­sucht, denen ich folgte, ich wollte mich in jedem Fall sau­ber aus der Geschichte zie­hen, ohne mein Gesicht zu ver­lie­ren. In dem Gast­haus for­derte mich die Haus­her­rin dazu auf, den Preis für mein Zim­mer selbst zu bestim­men, war dann aber mit dem Gebot nicht zufrie­den und wenige Minu­ten spä­ter reichte sie mir das Tele­fon, Suwai wolle mich spre­chen. Er sagte mir, dass ich zu wenig für mein Zim­mer zah­len würde. Ich wies ihn dar­auf hin, dass dies eine Sache zwi­schen der Haus­her­rin und mir sei. Er ermahnte er mich, und for­derte, ich müsse im Gegen­zug für das güns­tige Zim­mer Wer­bung für sein Hotel machen.

Trotz mei­ner zuneh­men­den inne­ren Stärke, fühlte ich mich wei­ter sehr ein­sam und ich wünschte mir nichts sehn­li­cher als die Begeg­nung mit ande­ren Rei­sen­den, mit denen ich ein Weg­stück tei­len konnte. Und als ich schon ver­zwei­felt sin­nierte, ob ich mich mit einem Schild auf den Markt­platz stel­len sollte, mit der Auf­for­de­rung mich ein­zu­sa­cken, traf ich zufäl­lig auf Neo am „Ome­lette Shop“.

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Neo stammte aus den U.S.A. und war mit einem Pär­chen unter­wegs und nach­dem ich ihm von den Fall­stri­cken mei­ner Reise berich­tet hatte, bot er mir ohne zu zögern an, ich könne mich ihnen anschlie­ßen. Nach­dem ich mich auch mit den bei­den ande­ren ver­stand, kam es genauso. Wir konn­ten noch ein Ticket für den­sel­ben Bus nach Mount Abu ergat­tern und ich änderte meine Rei­se­route sehr gerne für die ange­nehme Gesell­schaft. Mei­ner Haus­her­rin erzählte ich, ich würde wie geplant nach Udai­pur wei­ter­rei­sen und ließ mir ein Hotel emp­feh­len, um es mei­den zu kön­nen. Damit schloss sich auch die­ser Kreis und ich war nicht trau­rig Suwai und Kon­sor­ten fortan nicht mehr zu begeg­nen. Suwais Visi­ten­kar­ten nutzte ich fortan, um vor sei­nen Machen­schaf­ten zu warnen.

Cate­go­riesIndien
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  3. Berthold Wittmann says:

    Namaste Ole­an­der,
    Ich habe ihn auch, die­sen wahn­sin­ni­gen Indien Virus. Habe bereits 7 mal das Land bereist von Lad­akh bis Kerala. In Jai­sel­mer haben wir auch Bang pro­biert. Es ging mir sau­schlecht. Du beschreibst Land und Leute genau so, wie es wirk­lich in Indien ist. Über Var­a­nasi liegt eine Mys­tik, die kaum aus­zu­hal­ten ist, da kann ich Dir nur beipflichten.
    Gro­ßes Kom­pli­ment für Deine Berichte.

    Liebe Grüße
    Berthold

    1. Lie­ber Bert­hold! Herz­li­chen Dank! Schon ver­rückt, wie stark die­ser „Indien-Virus“ wirkt. Indien ist ein­fach in jeder Hin­sicht inten­siv, nicht zuletzt auch eine emo­tio­nale Ach­ter­bahn­fahrt. Die nächste Reise kommt bestimmt.
      Ganz liebe Grüße!

      Ole­an­der

  4. Manfred L. says:

    Sehr schö­ner Bericht :)
    … auch ich habe die geschil­der­ten Orte besucht und glei­che Erfah­rung gemacht. Pracht­volle Schön­heit und Ekel („Kör­per­spra­che“ erlangt in Indien ganz neue Bedeu­tung), habe Her­zens­güte und dumm-dreiste Ver­ach­tung erfahren.
    Jaisal­mer zum Kamel­fes­ti­val im Februar, alleine bei Vieh­hir­ten in der Wüste, mit dem Hotel­boy bei sei­ner Stein­metz-Fami­lie … rie­sige Son­nen­uh­ren in „Pink-City“ und schmer­zende Fuß­soh­len am Push­kar-Lake und vie­les mehr sind beim Lesen Dei­nes Berich­tes wie­der vor mei­nem inne­ren Auge erschienen.

    In weni­gen Wochen werde ich wie­der ein Flug­zeug bestei­gen, um den Win­ter in Indien rei­send zu verbringen.

    1. Lie­ber Man­fred! Schön, dass Du Dich in mei­nem Bericht wie­der­fin­den konn­test und einige Erin­ne­run­gen wie­der leben­dig wur­den! Die Ambi­va­lenz Indi­ens ist manch­mal echt schwer zu ertra­gen, aber das macht ja auch einen wesent­li­chen Reiz des Lan­des aus. Dir viel Freude in Indien! Liebe Grüße, Oleander

  5. Sehr schö­ner Blog. Sobald ich mal etwas mehr Zeit habe, werde ich mich in den vie­len tol­len Rei­se­be­rich­ten ver­lie­ren. Aber allein, was ich gerade über Raja­sthan gele­sen habe, ließ auch bei mir wie­der sehr viele Erin­ne­run­gen erwachen.

  6. Gerhard says:

    Ein paar Mal musste ich grin­sen bei dei­ner Geschichte. Nein, nicht weil ich selbst schon mal in Indien gewe­sen wäre, das Land steht immer noch auf der Liste, aber weil sich deine Geschichte im Grunde genom­men wie eine Erfah­rungs­reise zu dir selbst anhört. Eine Reise die auch ich seit vie­len Jah­ren mache, an ande­ren Orten und auf andere Weise – aber im Grunde genom­men mit den glei­chen Effekten.

    Bei dir ist es eine Reise in ent­fernte Län­der – bei mir eine scha­ma­ni­sche Reise in ganz andere Wel­ten – aber das Prin­zip ähnelt sich doch. Viel­leicht lau­fen wir uns ja mal über den Weg … würde mich freuen …

    Ger­hard

    1. Lie­ber Gerhard! 

      Vie­len Dank für Dei­nen Kom­men­tar! Selbst­fin­dung und Selbst­er­fah­rung spie­len auf mei­nen Rei­sen und in mei­nem Leben eine große Rolle. Im Schrei­ben habe ich die Form der (Selbst)reflexion, die not­wen­dig ist, um das Erlebte nach und nach zu ver­ar­bei­ten und das Aus­ge­drückte einzuordnen.
      Auf mei­nen Rei­sen habe ich erle­ben dür­fen, wie­der in tie­fen Kon­takt mit mei­nen inners­ten Bedürf­nis­sen und der Natur zu kom­men. Die lan­gen Wan­de­run­gen waren für mich Medi­ta­tio­nen. Bei sich selbst anzu­kom­men, am Gip­fel eines Ber­ges, beim Geruch des Sal­zes beim Errei­chen des Mee­res, am Ende einer stra­pa­ziö­sen Reise, die einem guten Ende ent­ge­gen­geht und in die­sem Zustand zu ver­har­ren und immer bewuss­ter wahr­zu­neh­men, wel­che Mög­lich­kei­ten sich auf­tun. Doch man muss kei­nes­wegs raus in die Welt, man kann all das über­all ent­de­cken und am Ende doch nur in sich selbst. Mir hilft der Spie­gel frem­der Kul­tu­ren. Am Ende ent­kommt man sich selbst ohne­hin nicht, selbst wenn man vor sich selbst zu flie­hen ver­sucht. Es bleibt nur, sich zu stel­len, zu rei­fen, zu strau­cheln, auf­zu­ste­hen, sich zu fin­den und wie­der zu ver­lie­ren. Immer wie­der neu.
      Es hat mich auf mei­nen Rei­sen immer mehr zu den Mys­ti­kern, zu den Bet­tel­mön­chen oder den Sufis gezo­gen, von ihnen will ich mehr über Askese und Medi­ta­tion ler­nen, am Ende jedoch mei­nen eige­nen Weg bis zum Ende gehen. Auch meine psy­che­de­li­schen Aus­flüge waren sehr lehr­reich und haben das Natur­emp­fin­den und die Ein­heit mit der Umge­bung noch ver­stärkt. Rituale mit Zau­ber­pflan­zen als Lehrmeister.
      Viel­leicht trifft man sich irgendwo in die­sem wil­den Leben. Liebe Grüße!

      Ole­an­der

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