Das Tref­fen von Ent­schei­dun­gen und die Spe­ku­la­tion bestim­men seit jeher unser Leben und treibt Men­schen an. Der Mann mit der Nazi-Fri­sur sitzt direkt hin­ter mir. Die Haare sind über den Ohren und am Hin­ter­kopf abra­siert, der Sei­ten­schei­tel tut, was ein Schei­tel tun muß. Das freund­li­che Gesicht ist ver­zerrt. Der Thai blickt zu mir her­über und lacht mich ver­schmitzt und ohne Zähne an. Auf sei­nem Schoß liegt eine offene, grüne Kiste, die aus­sieht, wie ein alter Zigar­ren­kas­ten. In der Kiste lie­gen sechs unter­schied­li­che, schwarze Mobiltelefone.

Ich sitze am Box­ring und bli­cke auf die Steh­platz­tri­büne des Lum­pini-Thai-Boxing Sta­di­ons in Bang­kok. Die Men­schen ste­hen dicht gedrängt und ges­ti­ku­lie­rend bei­sam­men und brül­len. Sie sind ver­fal­len. Nicht dem Box­sport. Dem Glücks­sport. Mit einer sach­ten Hand­be­we­gung, die man leicht für ein „Hallo-wie-gehts?“ hal­ten könnte, wech­seln hier 100.000 Baht (2.000 Euro) und mehr den Besit­zer. Das Drama im Ring: Nur Nebensache.

Wie in der Manège dre­hen die Boxer vor dem ers­ten Gong eine Runde im Ring. Die Musik könnte auch im Zir­kus Krone spie­len. Bei der Ele­fan­ten Num­mer. Es sind lang­same, wie­gende Bewe­gun­gen zu einer Musik, die mich als­bald in Trance fal­len läßt. Auf den wei­ter ent­fern­ten Steh­plät­zen bemerkt nie­mand, wie die Boxer – voll­ge­pumpt von Angst – schlei­chend ihre Ringrunde dre­hen. Ihre Bauch­mus­keln zucken aufgepeitscht.

Plötz­lich wirft sich einer der bei­den Boxer auf die Knie. Dann sanfte, rhyth­mi­sche Arm­be­we­gun­gen, in die schwere, rau­chige Luft hin­ein, die der Ven­ti­la­tor unter der Decke ver­sucht vom Fleck zu bewe­gen. Zur Ruhe kom­men. Zulas­sen. Alles ver­wischt für den Moment zur Bedeu­tungs­lo­sig­keit. Für die Boxer, für alle. Spä­ter wird einer der Kämp­fer noch ein­mal auf die Knie fal­len, denn beim Thai-Boxen küßt der Sie­ger dem Ver­lie­rer die Füße.

Eine 200.000 Baht Entscheidung

Der zahn­lose Mann hält sich die grüne Kiste vor das Gesicht und spricht in die Kiste hin­ein. Alles auf Rot. Oder Blau. Noch ist alles Spe­ku­la­tion. Die Abwe­sen­heit von Gewiss­heit. Er dreht sich um, in Rich­tung Steh­plätze, hebt die Hand und bewegt ein­zelne Fin­ger ein paar Mal vor und zurück. Eine ver­schlüs­selte Zei­chen­spra­che. Als er sich zurück­dreht, schaut er mich zufrie­den an und zwin­kert mit bei­den Augen. Ich lache zurück. Hof­fent­lich keine Ent­schei­dung, die mich aus einer Laune her­aus 200.000 Baht kos­ten wird.

Auf einem Schild, das am Ring klebt, steht: „Ladies, please don’t touch the stage!“ Ich will von der erreg­ten Thai-Frau, die neben mir sitzt, wis­sen, ob Thai-Män­ner davon träu­men, Thai-Boxer zu wer­den. Sie lacht, kichert. Ja, sagt die junge Frau, Thai-Boxer und Mön­che spie­len eine wich­tige Rolle in Thai­land. Aber das Wich­tigste sei das Wet­ten. Nach dem Kampf gehe ich in die Kabine der Boxer, sehe in die Gesich­ter und bemerke, daß hier auf Kin­der gewet­tet wird. Die Nach­frage nach immer neuen Thai-Boxern muß ähn­lich hoch sein, wie der Bedarf neuer Gesich­ter im Porno-Busi­ness. In Thai­land, las ich ein­mal, heißt es, ver­kau­fen die Armen ihre Kör­per, ent­we­der als Huren oder als Thai-Boxer.

Was die Men­schen außer­halb des Rings her­treibt und anmacht ist der Spaß am Spe­ku­lie­ren und die Gier. Der Kick, für einen Moment gewiss sein und auf das rich­tige Pferd set­zen. Die Ver­su­chung, den Arm heben und Gewin­ner sein. Dabei sein. Wie auf dem Par­kett der New York Stock Exch­ange, sekun­den­schnell Ent­schei­dun­gen tref­fen und rich­ten, über Kau­fen und Ver­kau­fen, über Gewin­nen und Ver­lie­ren, über Leben und Sterben.

Boxen bis zur Explosion

Der Zahn­los-Mann hält wie­der sei­nen Sprech­kas­ten vor das Gesicht und regt sich auf. Die Kun­den wol­len aus der ers­ten Reihe infor­miert wer­den. Wie soll man da sonst spe­ku­lie­ren? Thai-Boxen hat etwas mäd­chen­haf­tes – bis es zur Explo­sion kommt. Dann ist es: Kraft, Schnel­lig­keit und Bru­ta­li­tät, Schmerz, Lei­den und Ver­zicht. Und jeder weiß: Der größte Schmerz wäre, das Gesicht zu verlieren.

Im Ring ste­hen sich Rot und Blau gegen­über und tän­zeln im Kreis. Rot tritt Blau mit dem Fuß gegen das Schien­bein. Blau lächelt, tut belei­digt. Blau hebt den Kopf, ohne sei­nem Geg­ner in die Augen zu bli­cken, ver­zieht den Mund und tritt sachte mit einem Bein zurück. Tritte und Stöße. Der Rhyth­mus nimmt Fahrt auf und gip­felt in explo­si­ons­ar­ti­gen K.O.-Versuchen.

Nun ver­su­chen beide mit den Hän­den vor dem Kopf jeweils auf den ande­ren auf­zu­sprin­gen. Das ist schwie­rig, da sich beide auf­recht gegen­über­ste­hen. So duel­lie­ren sich Rot und Blau mit jeweils einem ange­win­kel­ten Bein, Kör­per an Kör­per. Bei jedem Kör­per­tref­fer ant­wor­tet die Ste­ph­platz­tri­büne als Chor. Ein mit­füh­len­des UHH!, gefolgt von einem erleich­ter­ten AHH! Dabei geht es mehr darum, den Sta­tus der eige­nen Spe­ku­la­tion zu kom­men­tie­ren, als die Wucht des Schmer­zes zu beschreien.

Das Drama in Ring: Geach­tete Gewin­ner, ver­ges­sene Verlierer

Das Drama im Ring: Nur Neben­sa­che. Gegen Ende der Runde 4, mehr UHHs! als AHHs! Der Kis­ten-Mann winkt und schreit. Hand­zei­chen und wei­tere Ges­ten flie­gen wie Pfeile in die blaue Rin­ge­cke. Zwei Fin­ger, die auf­recht ste­hen. Eine Faust, die aus­fährt. Ein Kopf, der zurück­weicht. So geht das, Mann! Mit ein bischen mehr Gewiss­heit spe­ku­liert es sich nun­mal ein­fa­cher. Der Trai­ner in der blauen Ecke knöpft sich sei­nen geschun­de­nen Mann in der Pause vor. Er zeigt ihm zwei Fin­ger. Ein Faust, die aus­fährt. Und einen Kopf, der zurück­weicht. So geht das, Mann!

Ein wei­te­rer Gong. Die letzte Runde. Der Blick des Man­nes aus der blauen Ecke trifft beim Kis­ten-Mann ein. Der schaut zufrie­den zurück. Mehr AHHs! als UHHs! Aus. Ende. Ent­schei­dung. Blau hat sich dies­mal durch­ge­boxt. Schluß mit Spe­ku­la­tion. Der Kis­ten-Mann steckt dem blauen Boxer Geld­scheine in den Mund.

Er muß nun keine Ent­schei­dun­gen mehr tref­fen, hat sich und andere zu geach­te­ten Gewin­nern und zu ver­ges­se­nen Ver­lie­rern getrie­ben. Antoine de Saint-Exupéry wußte es längst: „Wer nur um Gewinn kämpft, ern­tet nichts, wofür es sich lohnt zu leben.“ Doch der Gong zu einer neuen Runde dringt bereits durch die Arena.

Cate­go­riesThai­land
Markus Steiner

Es war 2011, als Markus das letzte Mal das dumpfe Klacken der Bürotür hinter sich hörte. Und beschloss Neues zu entdecken. Seitdem ist er in der Welt zu Hause. Markus schrieb 393 Reisetage auf, was er erinnerte und wie, um vom Leben zu erzählen. In seinem Blog vereint er seitdem seine Leidenschaften: Reisen und Schreiben. Markus erzählt Geschichten von unterwegs. Von den Menschen, der Schönheit der Welt und wie es sich anfühlt, in ihr zu reisen und mit ihr zu leben. Schöne Welt.

  1. Mal89 says:

    Schöne Geschichte und sehr span­nen zu lesen. Beson­ders süss finde ich den Abschnitt : Der Thai blickt zu mir her­über und lacht mich ver­schmitzt und ohne Zähne an.
    Zigar­ren­kas­ten nennt man übri­gens Zigar­ren Humidore ;)

  2. Valeria says:

    Schöne Geschichte und super beob­ach­tet! Schließe mich Ariana an, da ich mich eben­falls mit Muay Thai aus­kenne und wie sie hier und dort trai­niert habe. Mit dem Füße küs­sen ist mir neu. 

    Und ja viele möch­ten Thai-Boxer wer­den, da es vor­al­lem für die Jungs der ein­zige Weg ist, raus aus der Armut zu kom­men. Es gibt viele Bekannte Muay Thai Kämp­fer, die das geschafft haben und zu die­sen schauen sie her­auf. Die, die wet­ten, sind oft auch ehe­ma­lige Kämp­fer. Man fängt früh damit an, tra­ni­ert sehr sehr viel und mit 20 – Anfang 20 ist es auch schon wie­der vor­bei. Schwie­rig danach ein „nor­ma­les“ Leben zu führen. 

    Komm mal zum Trai­ning, dann möchte ich sehen, wie du Thai­bo­xen immer­noch als „mäd­chen­haft“ bezeich­nest. ;) Mit Bru­ta­li­tät kommt man auch nicht weit. Ver­letzt dich nur und zack biste für Wochen raus. Es ist ein sehr har­ter Sport, viel, wenn nicht sogar alles geht jedoch vom Kopf aus. Wie Bruce Lee sagte: „Train hard, fight easy“. 

    Es ist egal, ob es „rich­tig“ oder „falsch“ ist, was du gese­hen hast. Es sind deine Beob­ach­tun­gen. Das ist okay!

    LG

    1. markus says:

      hallo vale­ria – danke fuer deine ein­la­dung zum pro­be­trai­ning. da freue ich mich schon sehr drauf. ich hoffe, du haust mich nicht sofort aus den schlap­pen… ein bischen habe ich ja auch schon trai­ni­nert… viele gruesse!

    2. Valeria says:

      Hey. Nimm das Wort „hauen“ weg und wir kom­men ins Geschäft ;)

      Wer nur tra­ni­ert, um zu hauen oder gehauen zu wer­den, hat etwas missverstanden. :)

      LG

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  4. Ariana says:

    Der Arti­kel ist zwar sehr schön geschrie­ben – aber da ich selbst meh­rere Jahre sehr inten­siv Muay Thai trai­niert habe (unter ande­rem auch meh­rere Monate in einem Camp in Thai­land) war ich über einige Aus­sa­gen doch sehr erstaunt. Dass der Ver­lie­rer dem Gewin­ner die Füsse küsst habe ich noch nie gese­hen und in google auch gar nichts dar­über gefun­den. Kei­ner der Kämp­fer (und auch ich nicht) haben „voll­ge­pumpt vor Angst“ ihre Run­den gedreht – was Du meinst ist wahr­schein­lich der Wai Khru. Die­ser soll die Trai­ner (und auch die Leh­rer, die gan­zen Tra­di­tio­nen etc.) ehren.
    Und auch beson­ders mäd­chen­haft erscheint es mir nicht – aber das ist wahr­schein­lich Ansichtssache. 

    Liebe Grüsse
    Ariana

    1. markus says:

      hallo ariana – wie schoen, dass dir der text gefaellt. eine echte muay thai – wie span­nend! wich­tig zu wis­sen: dies ist eine geschichte und ich habe auf­ge­schrie­ben, was ich beob­ach­tet, gese­hen, gefuehlt habe. das mache ich natuer­lich aus mei­ner ganz per­soen­li­chen per­spek­tive als beob­ach­ter und hoch sub­jek­tiv. obwohl ich mich bei uebungs­stun­den ein paar mal beim thai boxen habe ver­dre­schen las­sen, wuerde ich mich nicht als thai boxer bezeich­nen. umso span­nen­der, dass du deine erfah­run­gen als boxe­rin teilst. viele gruesse – markus

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