Die Reise in den Liba­non beginnt mit einem Flug­zeug­ab­sturz. In Ber­lin-Schö­ne­feld hat ein Klein­flie­ger die Lan­de­bahn ver­fehlt, der gesamte Air­port liegt still. Pau­schal­ur­lau­ber mit ent­täusch­ten Gesich­tern sit­zen im Schnei­der­sitz auf dem Fuß­bo­den und war­ten auf Anwei­sun­gen. Der Flug nach Istan­bul wird als einer der weni­gen doch abge­wi­ckelt, aller­dings von Tegel aus, wir müs­sen also nach dem Ein­che­cken mit dem Bus durch die ganze Stadt, vier Stun­den dau­ert das Pro­ze­dere. Als sich die Tore zum Flug­ha­fen­ge­lände öff­nen, ist bereits abseh­bar, dass ich mei­nen Anschluss­flug nach Bei­rut ver­pas­sen werde.

Es ist Februar, die ver­schnei­ten Klein­gar­ten­ver­schläge vor Tegel sehen an die­sem Tag beson­ders trist aus. End­lich Abflug, spät am Abend errei­che ich Istan­bul-Sabiha Gök­çen, die Maschine nach Bei­rut ist erwar­tungs­ge­mäß weg. Die Dame von Pega­sus Air­lines küm­mert sich um eine Unter­kunft für die Nacht. Die Mono­to­nie des Flug­ha­fen­ho­tels: ein wei­ßer, beton­ar­ti­ger Kas­ten, von außen sieht das Gebäude aus wie eine Kaserne. Erst am Abend des nächs­ten Tages geht es wei­ter nach Süden.

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Man erkennt sie schon im Flug­zeug, die liba­ne­si­sche Ober­schicht, die bla­sier­ten Frauen, die Jacken mit Pelz­kra­gen tra­gen und manch­mal – weni­ger stil­si­cher – der Mode des Wes­tens nach­emp­fun­dene Moon­boots, dazu aber immer­hin teu­ren Schmuck. Was auf­fällt: Die Kin­der der rei­chen Leute dür­fen lär­men und toben, wie sie wol­len. Ich trinke einen Rot­wein, obwohl ich eigent­lich gar nicht müde wer­den möchte. Über der Levante wird es Nacht.

Was weiß man vom Liba­non? Ich denke lei­der gleich an die His­bol­lah, die im Liba­non als aner­kannte Par­tei im Par­la­ment sitzt und von den USA als Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion ein­ge­stuft wird. Zu der Zeit, als ich in das Land am Mit­tel­meer fliege, vor fünf Mona­ten, hat sich die His­bol­lah noch nicht in den syri­schen Bür­ger­krieg ein­ge­mischt. Es herrscht, so wer­den es mir spä­ter viele Men­schen im Liba­non erklä­ren, eine fra­gile Ruhe vor dem Sturm.

Ohne­hin, der Rei­sende wähnt sich erst ein­mal auf der Suche nach dem kos­mo­po­li­ten, hip­pen Bei­rut, dem Sün­den­pfuhl die­ser „Schweiz des Nahen Ostens“, den CNN vor eini­gen Jah­ren als die „beste Par­ty­stadt der Welt“ bezeich­net hat. „Paris des Nahen Ostens“, das liest man auch über­all, so wurde Bei­rut genannt, bevor der unüber­schau­bare Irr­sinn des liba­ne­si­schen Bür­ger­kriegs aus­brach, 1975 war das.

Als ich das Flug­zeug ver­lasse, weht eine sanfte Brise vom Mit­tel­meer her­über wie warme Zug­luft. Ich feil­sche mit einem Taxi­fah­rer um den Preis, die Stre­cke führt durch die süd­li­chen, schii­ti­schen Vor­orte Bei­ruts bis nach Hamra im Nord­wes­ten der Stadt. Ocker­graue Wohn­blö­cke ragen in die Dun­kel­heit, erleuch­te­tet in fah­lem Orange, über­all Kabel zwi­schen den Häu­sern, Pal­men und Pla­kate, die Hassan Nas­ral­lah zei­gen, die­sen, man könnte sagen, sehr moti­vier­ten Anfüh­rer der His­bol­lah, der vier Monate nach mei­ner Reise zum Kampf gegen die Feinde Baschar al-Assads auf­ru­fen wird, der die His­bol­lah also end­gül­tig zur akti­ven Kriegs­par­tei in Syrien macht.

„Tou­rism in Leba­non went down 60 per­cent“, erklärt mir der Taxi­fah­rer, das hänge natür­lich mit dem syri­schen Bür­ger­krieg zusam­men. Spä­ter werde ich Zah­len hören, die deut­lich höher sind: 70 Pro­zent, 85 Pro­zent. Man weiß es nicht genau. Was schon beim ers­ten Gespräch mit dem ers­ten Liba­ne­sen klar wird: Das Schick­sal des Liba­nons ist untrenn­bar mit dem Schick­sal Syri­ens ver­knüpft. „The appar­te­ments at the coast are mostly owned by Syri­ans“, sagt der Taxi­fah­rer. Viele rei­che Syrer haben ihr Geld in die Luxus­woh­nun­gen an der cor­ni­che ange­legt. „Now many Syri­ans come because they are tired of the war.“ Der Bür­ger­krieg in Syrien dau­ert schon zwei Jahre, nach allem, was man liest, wird er eher unüber­sicht­li­cher, gefähr­li­cher, brutaler.

Drau­ßen rauscht das nächt­li­che Bei­rut vor­bei, das erst ein­mal nicht viel von sich ver­rät. Man kann sich nur schwer vor­stel­len, wie das aus­ge­se­hen haben muss, als die israe­li­sche Luft­waffe 2006 wäh­rend des zwei­ten Liba­non-Kriegs die süd­li­chen Vor­orte Bei­ruts bom­bar­diert hat und Rake­ten den Him­mel erleuch­te­ten. Die His­bol­lah-Miliz hatte zwei israe­li­sche Sol­da­ten ent­führt, die Ver­gel­tungs­of­fen­sive war so hef­tig, dass selbst Nas­ral­lah spä­ter erklärte, dass die Ent­füh­rung nie statt­ge­fun­den hätte, wenn das Aus­maß des Gegen­schlags bekannt gewe­sen wäre.

An die­sem Sams­tag­abend sehen viele Stadt­teile auf den ers­ten Blick ver­las­sen aus: düs­tere Reklame, kleine Geschäfte, hell erleuch­tete Ban­ken, streu­nende Hunde. Spä­tes­tens im Ver­gnü­gungs­vier­tel Hamra ist es mit der Ruhe vor­bei, wir zuckeln lang­sam durch den dich­ten Ver­kehr, irgend­wann steige ich aus und gehe die letz­ten Meter zu Fuß.

Ich habe ein Zim­mer im Grand Hotel Bei­rut reser­viert, von außen ein see­len­lo­ser Kas­ten. Im Ein­gangs­be­reich ste­hen schlechte Nach­bau­ten hel­le­nis­ti­scher Sta­tuen, Gold blät­tert ab vom Gelän­der der brei­ten Treppe, in der Lobby ste­hen schwere Sitz­mö­bel. Der adrett ange­zo­gene Hote­lier wacht ein­sam im Däm­mer­licht hin­ter der Rezeption.

Mein Kon­takt in Bei­rut ist eine fran­zö­si­schen Jour­na­lis­tin, die Freun­din eines Freun­des aus Paris, sie heißt Anaïs. Mein Handy funk­tio­niert lei­der nicht. Ich rufe Anaïs von der Rezep­tion aus an, für drei Dol­lar die Minute. Die Anwei­sung: Komm nach Furn el Che­bakk zum Hawa Chi­cken. Mehr Infor­ma­tio­nen sind nicht zu bekom­men, man werde mich dort abho­len. Ich bringe kurz mein Gepäck auf das Zim­mer, kurz nach Mit­ter­nacht stehe ich unten auf der Straße.

Die Fahrt mit dem Taxi dau­ert eine knappe halbe Stunde, der Fah­rer und ich spre­chen kaum, weil der Mann nur Ara­bisch ver­steht. Ich sage ihm tat­säch­lich ein­fach „Furn el Che­bakk, Hawa Chi­cken“ und hoffe, dass die Aus­spra­che das Gesagte nicht fol­gen­schwer ver­zerrt. Das liba­ne­si­sche Ara­bisch sei sehr weich, erklärt mir spä­ter ein Jor­da­nier in einer Bar in Gemay­zeh, es klinge für viele andere Ara­ber, nun ja, very gay.

Furn el Che­b­bak ist ein Stadt­teil im Süd­os­ten Bei­ruts, der Taxi­fah­rer hat nicht nach­ge­fragt, und tat­säch­lich taucht irgend­wann an der Stra­ßen­seite eine geschlos­sene Filiale der Imbiss­kette Hawa Chi­cken auf. Lei­der sehe ich nie­man­den, der hier auf mich gewar­tet haben könnte. Ich bitte den Ver­käu­fer eines klei­nen Geschäfts um ein Tele­fo­nat, mein Handy funk­tio­niert wie gesagt nicht, und rufe Anaïs an. Offen­sicht­lich bin ich beim fal­schen Hawa Chi­cken, aber der Stadteil stimmt.

Ich laufe also eine ver­las­sene, ein­same Straße ent­lang zu einer ande­ren Filiale, an der wir auf der Hin­fahrt mit dem Taxi vor­bei­ge­kom­men sind. Es ist eini­ger­ma­ßen men­schen­leer und ganz kurz etwas beängs­ti­gend, wie ich hier als Orts­frem­der spät in der Nacht durch Bei­rut laufe und wirk­lich von Nichts eine Ahnung habe. Am rich­ti­gen Hawa Chi­cken hal­ten dann aber zum Glück zwei Autos, und meh­rere junge Men­schen stei­gen aus, dar­un­ter Anaïs. Kurze Vor­stel­lungs­runde, „How was the flight?“, Alexis in Paris gehe es gut, alle haben natür­lich Lust zu feiern.

Wir fah­ren mit den Autos und eini­gen Bier­fla­schen wei­ter, es soll zu einem klei­nen Elec­tro­club gehen, in dem irri­tie­ren­der­weise ein zot­te­li­ger Dre­ad­lock-DJ aus Mar­burg auf­legt. Hier tanzt die weni­ger rei­che, etwas abge­drehte Bei­ru­ter Jugend hef­tig im Stro­bo­skop, ein Mäd­chen trägt einen pin­ken durch­sich­ti­gen Rock und Leo­par­den-Leg­gins, sie sieht aus wie eine Fee, nur der Zau­ber­stab fehlt.

„If you want a Leba­nese girl, you need two things, time and money“, erklärt mir eine junge Liba­ne­sin, die damit ganz offen­sicht­lich nicht sich selbst meint. „Leba­nese peo­ple make party like there is no tomor­row“, sagt sie, aber das ist keine Phrase. Nach­dem es in mei­nem Kopf ein biss­chen gear­bei­tet hat, erscheint mir ihre Aus­sage völ­lig ein­leuch­tend: Nach 15 Jah­ren Bür­ger­krieg, nach der De-Facto-Beset­zung durch Syrien ab 1990 und der Zedern­re­vo­lu­tion 2005, die durch die Ermor­dung von Pre­mier­mi­nis­ter Rafiq al-Hariri ange­sto­ßen wurde, nach dem Angriff Isra­els ein Jahr spä­ter, nach all die­ser irra­tio­na­len Gewalt also fei­ern die Liba­ne­sen tat­säch­lich mit dem Grund­ge­fühl, dass mor­gen alles vor­bei sein könnte.

Blöde Frage, aber: Wie fei­ert eigent­lich der junge deut­sche Mitt­zwan­zi­ger? Was ist – wenn man das so sagen kann – sein natio­na­les Grund­ge­fühl? Er hat die Geschichte des lan­gen Auf­stiegs und Wohl­stands im Rücken, der krampf­haft ver­tei­digt wird, und viel­leicht streift ihn in Zei­ten die­ser ungreif­ba­ren Fun­da­men­tal­krise eine düs­tere Vor­ah­nung, dass es damit tat­säch­lich ein­mal vor­bei sein könnte, und er fragt sich, ob er die­sen ver­damm­ten Gin Tonic für sie­ben Euro kau­fen oder doch lie­ber noch mehr arbei­ten, sich wei­ter qua­li­fi­zie­ren, end­lich ein­mal „pri­vat vor­sor­gen“ soll. Das ist natür­lich eine ganz andere Pro­blem­lage hier, das leuch­tet sofort ein.

An die­sem Abend halte ich es eher liba­ne­sisch, ich trinke viel Bier und Wodka-Irgend­was, weil die Wir­kung des Alko­hols aus dem Flug­zeug schon wie­der ver­flo­gen war, als ich das Hotel erreichte. Viel­leicht schluckt die Auf­re­gung des ers­ten Blicks auf die nicht zu fas­sende Stadt gleich die Trun­ken­heit und macht den Kopf schlag­ar­tig klar.

Die fata­lis­ti­sche Aus­ge­las­sen­heit der Liba­ne­sen springt auf mich über, ich tanze, als ob es das letzte Mal sein könnte, und begreife natür­lich doch nicht, wie das sein muss: Fei­ern im Ange­sicht eines gro­ßen Sturms. Ein paar Wochen nach mei­ner Reise schlägt die erste Rakete in Süd-Bei­rut ein, im Schii­ten-Vor­ort Bir al-Abed deto­niert eine Auto­bombe, das fra­gile Gleich­ge­wicht, so sagen es die schlauen Beob­ach­ter, droht zu kip­pen. Heute Nacht fal­len keine Bom­ben auf Beirut.

Kurz vor Mor­gen­grauen fängt es an zu reg­nen. Mah­moud, obwohl schwer betrun­ken, fährt uns sou­ve­rän mit sei­nem alten Kombi hin­auf nach Hamra, die Rei­fen des Wagens zer­tei­len die Pfüt­zen auf den ein­sa­men Stra­ßen. Anaïs, Mah­moud und ich essen Scha­warma an einer klei­nen Bude, dann laufe ich zum Hotel. Von mei­nem Zim­mer im vier­zehn­ten Stock schaue ich auf die schwe­ren grauen Wol­ken über dem abge­wetz­ten Häu­ser­ge­wirr. Rechts schim­mert blass das Mit­tel­meer im Dunst. Die auf­ge­hende Sonne brennt den Regen aus der Stadt und lässt war­men Dampf auf­stei­gen. Meine erste Nacht in Bei­rut endet um 6 Uhr mor­gens, eigent­lich möchte ich noch nicht schla­fen gehen.

Beirut

Am nächs­ten Tag treffe ich Ronny von der Ame­ri­can Uni­ver­sity Bei­rut, der aus­sieht, als käme er aus Kali­for­nien, aber tat­säch­lich Liba­nese ist. Ronny orga­ni­siert Stadt­füh­run­gen zu Fuß. Noch ein paar andere Tou­ris­ten haben sich vor dem Uni­ver­si­täts­ge­bäude in Hamra ver­sam­melt, das Wet­ter ist sonnig.

Ronny zeigt uns die alten Stadt­vil­len West-Bei­ruts, die heute oft ver­fal­len sind. Es han­delt sich dann meist um old rents, Ver­träge aus der Zeit vor dem Bür­ger­krieg, vor der Infla­tion, die heute prak­tisch nichts mehr wert sind. Darum inves­tie­ren die Besit­zer nicht mehr in die Häu­ser und ver­su­chen, die Bewoh­ner mit Mafia-Metho­den zu ver­trei­ben. Sie sabo­tie­ren Was­ser­lei­tun­gen, den Strom. Manch­mal liegt plötz­lich ein totes Tier im Hof. Um viele ver­fal­lene Häu­ser gibt es Fami­li­en­strei­tig­kei­ten, weil die Grund­stü­cke oft Mil­lio­nen wert sind. Eine Fami­lie, die vor dem Bür­ger­krieg geflüch­tet ist, wurde von wohl­ha­ben­den Inter­es­sen­ten mit einer Kreuz­fahrt und einem teu­ren Hotel besto­chen, nur um zurück in den Liba­non zu kom­men und ihr Grund­stück zu verkaufen.

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Unsere Gruppe bewegt sich etwas schreck­haft durch den Ver­kehr. Wir hal­ten vor der Ruine des ehe­ma­li­gen Holi­day Inn Bei­rut. Das Hoch­haus über­ragt die Stadt wie ein Gerippe, Bäume wach­sen im Innern, Ein­schuss­lö­cher von Rake­ten­wer­fern ver­tei­len sich über die Fas­sade. Die liba­ne­si­sche Armee lagert Waf­fen und Muni­tion in dem alten Hotel. Das damals größte Holi­day Inn des Nahen Ostens hatte zwi­schen 1974 und 1975 nur ein Jahr geöff­net, ganz oben war die sky bar, dann bra­chen die Kämpfe aus, und alles wurde geplün­dert. „The worst adver­ti­se­ment in the world“, sagt Ronny und grüßt die Sol­da­ten, die in vol­ler Mon­tur vor der Zufahrt Wache schieben.

Die Geschichte des liba­ne­si­schen Bür­ger­kriegs lässt sich im Prin­zip anhand des Holi­day Inns erzäh­len, denn es stand nicht weit ent­fernt von der green line, der Demar­ka­ti­ons­li­nie, die Ost- und West-Bei­rut 15 Jahre trennte. In den ers­ten zwei Jah­ren des Krie­ges besetz­ten ver­schie­dene Mili­zen das Holi­day Inn, einen stra­te­gisch wich­ti­gen Punkt. Die obe­ren Eta­gen boten Scharf­schüt­zen her­vor­ra­gende Aus­sicht. In der Down­town tobte die battle of the hotels. Die Paläs­ti­nen­si­sche Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­tion (PLO), die 1970 unter Jas­sir Ara­fat nach Bei­rut gekom­men war, kon­trol­lierte das Gebäude nur zwei Monate, dann über­nah­men Mili­zen aus Ost-Bei­rut den Komplex.

Als sich die Isrea­lis 1978 nach einer Mili­tär­of­fen­sive wie­der aus dem Liba­non zurück­zo­gen, ver­kün­dete der starr­sin­nige Ara­fat vor dem Hotel den Sieg über die Erb­feinde aus dem Süden und gleich auch über Ost-Bei­rut. Vier Jahre spä­ter ent­ging der israe­li­sche Bot­schaf­ter in Lon­don nur knapp dem Atten­tat einer PLO-Split­ter­gruppe, die Bot­schaft in Paris wurde atta­ckiert, ein Diplo­mat auf offe­ner Straße erschos­sen. Die Tole­ranz­grenze war über­schrit­ten, Israel begann mit der Ope­ra­tion „Frie­den für Gali­läa“ und besetzte Bei­rut. Ara­fat und die PLO flo­hen end­gül­tig aus dem Land nach Tunis. Den Sieg über die Paläs­ti­nen­ser erklärte Ariel Sharon – wie­der ein­mal – vor dem alten Hotel.

Als Israel ging, fiel der Liba­non wie­der ins Chaos. Die Macht­kämpfe unter den mili­tan­ten mus­li­mi­schen Grup­pie­run­gen eska­lier­ten, bis 1990 herrschte ein weit­ge­hend anar­chi­scher Zustand der Insta­bi­li­tät. Syrien über­nahm die Ruine bis zur Zedern­re­vo­lu­tion 2005, heute gehört die sym­bol­träch­tige Immo­bi­lie dem Emir von Kuweit.

Holiday Inn Beirut

Down­town-Bei­rut wird immer noch auf­ge­baut, Kräne über­ra­gen die Stadt. Die Nar­ben des Bür­ger­kriegs sind über­all sicht­bar, viele sind schlecht ver­wach­sen, man­che Wunde liegt noch offen. Die Sicher­heits­lage kann man nur mit viel Wohl­wol­len als ent­spannt bezeich­nen. Sol­da­ten patroul­lie­ren. Der Palast des Pre­mier­mi­nis­ters hat rake­ten­si­chere Fens­ter. Der nie fer­tig­ge­stellte Murr Tower ist so etwas wie das Gegen­stück zum Holi­day Inn, eben­falls ein aus­ge­zeich­ne­ter Ort für Scharf­schüt­zen, die sich in die­ser Kon­stel­la­tion gegen­sei­tig ins Visier neh­men konnten.

Wir betre­ten ein Vier­tel, das von Sol­da­ten mit Sturm­ge­weh­ren bewacht wird. Das Bau­un­ter­neh­men Solidaire hat die zer­stör­ten Häu­ser wie­der auf­ge­baut. Nie­mand wohnte mehr dort, als der Krieg vor­bei war, und nie­mand, so erfah­ren wir, wohnt heute hier. Die meis­ten Gebäude gehör­ten damals liba­ne­si­schen Juden, viele haben eine Kom­pen­sa­tion ange­nom­men. Die neuen Luxus­im­mo­bi­lien war­ten noch auf Käufer.

Mit­ten in dem Geis­ter­vier­tel steht eine Syn­agoge. Über dem Fens­ter ist ein David­stern in den Stein gehauen, Tora-Schrift­rol­len mit hebräi­schen Schrift­zei­chen ver­zie­ren das Dach, ein unge­wohn­ter Anblick an die­sem Ort. Ronny erzählt von „Lisa the Jew“, der letz­ten liba­ne­si­schen Jüdin, die es in Bei­rut aus­ge­hal­ten hat. Sie behaup­tete stets, Ariel Sharon eine Ohr­feige gege­ben zu haben, als die­ser nach Bei­rut kam, aber das sei wohl auf jeden Fall geflun­kert gewe­sen. „She wan­ted to be a cele­brity“, sagt Ronny. Heute gibt es keine Juden mehr in der Stadt, die meis­ten leben in Paris und Montréal.

Der Place de l’E­toile vor dem Par­la­ments­ge­bäude erscheint dem Besu­cher wie der sicherste Ort der Stadt, was gleich­zei­tig beun­ru­hi­gend ist: Aus Angst vor Auto­bom­ben ist das ganze Gebiet näm­lich durch Stra­ßen­sper­ren abge­rie­gelt. Mit­ten auf dem Platz steht ein Turm mit einer Uhr: spon­so­red by Rolex. Kin­der fah­ren mit Plas­tik­au­tos über das Pflas­ter und toben, Müt­ter und Väter haben sich läs­sig in den Cafés nie­der­ge­las­sen. Irgend­je­mand pus­tet Sei­fen­bla­sen durch die Luft.

Ich esse eine vor­züg­li­che Süß­speise, des­sen Namen ich mir lei­der nicht auf­schreibe, und trinke ara­bi­schen Kaf­fee. Gegen­über sitzt eine Fami­lie vom Golf, wahr­schein­lich Sun­ni­ten. Der Sohn fuch­telt mit sei­nem Smart­phone herum, der Vater trägt einen lan­gen Bart. Die Frau hebt das Gewand vor ihrem Mund mit der lin­ken Hand bei jedem Bis­sen hoch, damit sie etwas essen kann.

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Ronny kann nur über die­ses Par­la­ment lachen, das pas­sen­der­weise voll­kom­men unschein­bar wirkt. „It is totally dys­func­tional.“ Kei­nen Monat, nach dem ich den Liba­non ver­las­sen habe, löst sich die Regie­rung von Minis­ter­prä­si­dent Nad­schib Miqati im Streit um ein neues Wahl­ge­setz auf. Der sun­ni­ti­sche Nach­fol­ger hat bis heute kein neues Kabi­nett auf­stel­len kön­nen. Die Abge­ord­ne­ten haben ihre Amts­zeit ein­fach bis Ende 2014 ver­län­gert, zum ers­ten Mal seit Ende des Bürgerkriegs.

Der Abend bricht her­ein am Mar­tyrs‘ Square, dem Platz des Auf­stands, der ein­mal der kos­mo­po­li­tischste Ort Bei­ruts war. Im Bür­ger­krieg wurde er natür­lich kom­plett zer­stört, das Gelände liegt brach. Die Sta­tue der liba­ne­si­schen Natio­na­lis­ten aus dem Ers­ten Welt­krieg steht ein­sam in der Däm­me­rung. Die Gesich­ter schei­nen fle­hend in den Him­mel zu schauen, von Ein­schuss­lö­chern über­sät. Hin­ter dem Platz leuch­tet die Al-Hamim-Moschee in die Dun­kel­heit. Das alte Opern­haus ist heute ein Vir­gin Mega Store.

Als 2005 Pre­mier­mi­nis­ter al-Hariri ermor­det wurde, kamen die Men­schen auf dem Mar­tyrs‘ Square zu Groß­de­mons­tra­tio­nen gegen die syri­schen Besat­zer zusam­men. Am 14. März stan­den hier eine Mil­lion Men­schen und skan­dier­ten „hor­ri­yeh, siya­deh, isti­qlal“: Frei­heit, Sou­ve­rä­ni­tät, Unab­hän­gig­keit. Syrien musste gehen.

Der große Nach­bar habe sich immer schon als Schutz­macht auf­ge­führt, erklärt Ronny. Der wort­ge­wandte Liba­nese wird nach­denk­lich, da ist es schon kom­plett fins­ter. „Nor­mally, the region beco­mes unsta­ble because of Leba­non“, sagt er. „This time the region falls apart and Leba­non is sta­ble.“ Das sei doch irgend­wie ziem­lich ver­rückt, viel­leicht ein biss­chen zu sehr. Wer weiß, was noch pas­sie­ren wird?

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Cate­go­riesLiba­non
  1. Sebastian says:

    Hi,

    eine Frage: Es ist bereits eine geraume Zeit seit dem Schrei­ben des Arti­kels ver­gan­gen. Auf diver­sen Sei­ten von Regie­run­gen wird von einer Reise in den Liba­non abge­ra­ten. Den­noch würde ich gern wis­sen, ob sich dei­ner Mei­nung nach, oder der Mei­nung von etwa­igen liba­ne­si­schen Freun­den von dir, die Sicher­heits­lage im gesam­ten Land so zuge­spitzt hat, dass man das Land gene­rell nicht berei­sen sollte, oder mit dem Aus­las­sen bestim­mer Regio­nen man sich eini­ger­ma­ßen pro­blem­los im Land eine Woche lang auf­hal­ten könnte. Danke!

    LG
    Sebastian

    1. Hallo Sebas­tian,

      das kann ich dir lei­der nicht gut beant­wor­ten. Ich habe im Moment kei­nen direk­ten Kon­takt ins Land. Frag doch mal bei den Leu­ten von „Walk Bei­rut“ an (http://www.bebeirut.org/walk.html). Ich würde davon aus­ge­hen, dass man Bei­rut momen­tan schon noch besu­chen kann, aber das ist immer schwer zu sagen: Jeder hat seine per­sön­li­che Schwelle, aber der er sich unwohl fühlt und eine Reise nicht mehr genie­ßen kann.

      Viele Grüße!

  2. Kristina Bischof says:

    Hallo Phil­ipp,
    habe den Rei­se­be­richt mit viel Ver­gnü­gen (wegen der tol­len Schreibe) und gro­ßem Inter­esse (weil ich in ein paar Tagen selbst nach Bei­rut fliege) gele­sen. Danke!!!
    Gibt es eine Mög­lich­keit, so einen Guide wie Ronny vorab zu kon­tak­tie­ren und zu buchen? Evtl. direkt bei der AUB?
    Herz­li­che Grüße
    Kristina

  3. Avatar-Foto

    Hallo Phil­ipp,
    danke für den per­sön­li­chen, ja fast inti­men Text. Und den span­nen­den Ansatz, sich mit nicht funk­tio­nie­ren­dem Mobil­te­le­fon und eini­gen Frem­den ein­fach in das Nacht­le­ben einer wahr­lich her­aus­for­dern­den Stadt zu wer­fen. Spannend.
    Herz­li­che Grüße
    Susanne&Dirk

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