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Ich warte, also denke ich

War­ten ist doof

War­ten. Wir has­sen es. An der Hal­te­stelle, wann kommt der ver­dammte Bus? Beim Arzt, wann ruft die üppige Sprech­stun­den­hilfe end­lich: „Herr Klaus in Zim­mer Drei!“. Auf Ergeb­nisse, auf Freunde, auf Ant­wor­ten. War­ten ist unser stän­di­ger Beglei­ter, und es hat die Macht über uns – ich habe kei­nen Ein­fluss auf den Bus­fah­rer, die Zeit­pla­nung des Arz­tes oder auf die Schal­tung der Ampel. Die kost­bare Lebens­zeit tickt hin­ein in ein schwar­zes Loch. Meine Ohn­macht empört mich, aber: Nichts zu machen.

Lan­ge­weile mag auch kei­ner. Und ist es nicht fabel­haft, dass uns stän­dig ein rie­si­ges Arse­nal an Ablen­kungs­mit­teln zu Ver­fü­gung steht! Ein biss­chen im Inter­net rum­kli­cken, jeman­den anru­fen, unend­li­che Mög­lich­kei­ten. Schnell was unter­neh­men, sonst kom­men viel­leicht am Ende noch die unan­ge­neh­men Dinge ins Bewusst­sein, die tief ver­gra­ben doch fast nicht stören…

Rei­sen ist Warten

Ich warte stän­dig. Rei­sen kann in unge­dul­di­gen Momen­ten eine Qual sein. Keine zuver­läs­si­gen Infor­ma­tio­nen, und auch wenn man mal in Bewe­gung ist dau­ert es Stun­den, manch­mal Tage, bis man sein Ziel erreicht. Lang­wei­lig? Ja, ist es oft. Aber meist nur kurz. Denn dies sind die Zei­ten, die für mich immer wert­vol­ler wer­den, ja sogar mitt­ler­weile eine Haupt­at­trak­tion des Rei­sens sind.

Ich warte, also denke ich

Sitze ich zehn Stun­den im Bus, gibt es nicht viel. Gut, ich kann ein biss­chen aus dem Fens­ter schauen, etwas lesen bis mir schumm­rig wird, Musik hören, oder die hun­dertste Par­tie Freecell gewin­nen.  Nicht so span­nend, was. Lan­ge­weile setzt ein. Ich freue mich: Meine Gedan­ken lösen sich und gehen dahin, wo es ihnen gefällt. Mal sind es pro­fane Dinge, lus­tige Erleb­nisse und Begeg­nun­gen, mal tief­sin­ni­gere The­men, denen ich bis­her keine Auf­merk­sam­keit geschenkt habe. Ent­spannt und ziel­los, ohne jeden Druck, kann ich Ver­gan­ge­nes durch­leuch­ten oder Zukünf­ti­ges andenken, Klar­heit gewin­nen. Träu­men. Gedan­ken­spie­len. Denn mein Kopf ist die ein­zige Unter­hal­tung die ich habe.

Diese Zeit, wenn ich gezwun­gen bin, Lan­ge­weile zuzu­las­sen, ist im All­tag ein Aus­nah­me­fall. Zuviel bean­sprucht unsere Ener­gie, zu bil­lig ist geist­freie Ablen­kung zu haben. Rei­sen zwingt mich, enorm viel leere Zeit aus­zu­hal­ten. Und mei­nem Kopf gibt es den nöti­gen Raum, sie zu fül­len. Ein Aspekt, der mir wich­ti­ger wurde als Pyra­mi­den zu bewun­dern oder Ein­ge­bo­rene zu beschauen, und den ich ver­mis­sen werde.

Diese Zeit geht nicht ver­lo­ren, denn ich gewinne.

Johannes Klaus

Johannes Klaus hängte seinen Job als Grafikdesigner an den Nagel, um 14 Monate um die Welt zu reisen. Seine Website Reisedepesche wurde 2011 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. In unbeobachteten Momenten streichelt er den Preis zärtlich, besteht ansonsten aber darauf, dass ihm so was völlig egal sei.

  1. Anna Vogt says:

    Dein Schreib­stil ver­mag es, den Leser in eine Welt der Geduld und Selbst­re­fle­xion zu ent­füh­ren. Du zeigst, wie kost­bar die Momente des War­tens sein kön­nen, wenn wir sie bewusst erle­ben und die Geduld als eine Form der inne­ren Stärke begrei­fen. Danke für diese inspi­rie­ren­den Worte, die uns daran erin­nern, die klei­nen Pau­sen im Leben zu schät­zen und die Magie des Augen­blicks zu erken­nen. Deine Bei­träge sind immer wie­der ein Genuss zu lesen!
    Liebe Grüße,
    Anna

  2. HJK says:

    Johan­nes – deine Gedan­ken sind allein schon einen Preis wert, den ich dir hier­mit zum Abschluss dei­ner Jah­res­tour verleihe!!!!!!
    ITAV

  3. Ralf says:

    Als ich letz­tens mal ne Woche „Urlaub“ vom Rei­sen gemacht habe und eine Woche ein­fach nur in einem Berg­dorf gechillt habe, ja da hatte ich anfangs auch ein schlech­tes Gewis­sen. Ver­schwende ich nicht meine Zeit hier? Ich muss doch wei­ter – was erle­ben – usw.
    Aber ich habe genau das genos­sen was du beschreibst: Ruhe und Nach­denk­lich­keit. Ein­fach mal abschal­ten und die Gedan­ken trei­ben las­sen. Das tut so gut!

  4. Ich lieg hier im Bett mit Zahnsh­mer­zen und les wie so oft dei­nen Blog und was lesen meine ent­zün­de­ten Augen (ange­steckt von den Zäh­nen!): Du bist mit dem Blog für den Online Grimme Award nomi­niert?! Das ist ja der helle Wahn­sinn – wie geil ist das denn?!? Mal ehr­lich! Begeisterung :)

    Find ich toll und mehr als zu Recht! :D

    1. klys says:

      hey marc, hoffe es geht bald bes­ser! zahn­schmer­zen sind gräß­lich… und die nomi­nie­rung – wahn­sinn, ne!

    1. Anni says:

      Der Dalai Lama wäre stolz auf dich! Keine Sorge, du hast das jetzt 409 Tage geübt, das ver­lernst du nicht so schnell…

    2. klys says:

      oh, sag dem dalai doch liebe grüße, wenn du ihn mal wie­der auf ein gläs­chen but­ter triffst, ja?

  5. Anita says:

    Hmm, schon komisch. Ich denk öfter mal das wir gar­nicht mehr „nichts tun“ kön­nen. Die Gesell­schaft sug­ger­ri­ert einem das man immer in Bewe­gung sein muss. Genug Ablen­kung und Spiel­zeug wird ja gebo­ten. Untä­tig­keit führt zwangs­läu­fig zu schlech­tem Gewis­sen. Jede freie Minute wird genutzt um etwas zu erle­di­gen und dabei ver­ler­nen wir, wir selbst zu sein. Typisch deutsch…
    Mal am Rhein sit­zen und die Gedan­ken auf Wel­len an uns vor­bei­zie­hen las­sen. Find ich wichtig :)

  6. siolita says:

    Ein deut­sches Miss­ver­ständ­nis, dass ein Glas immer bis zum Rand mit Was­ser gefüllt sein muss, um zufrie­den zu sein. Dabei kann man viel schö­nere Wel­len im Glas schla­gen wenn oben noch Luft und Raum ist.
    Wan­dert dein Blick beim Rei­sen häu­fi­ger oder sel­te­ner auf die Uhr?
    ciao, siolita

  7. Barbara says:

    Für mich sind das auch die wich­tigs­ten Momente beim Rei­sen (oder beim „Arbei­ten“ beim stun­den­lan­gen Auto­fah­ren), tage­lange Bahn‑, Schiff- oder Bus­fahr­ten. Ein Geschenk. 

    Dei­nen Blog habe ich ges­tern zufäl­lig durch einen Link bei Tou­ris­ti­stan ent­deckt. Super Tour, genieß‘ die Zeit!

    1. klys says:

      danke, bar­bara! lei­der geht’s „schon“ zu ende, aber ich freu mcih auch sehr auf die neuen aben­teuer daheim…

  8. Cici says:

    Wie sehr haben wir doch die War­te­zeit genos­sen als ein paar der Bil­der ent­stan­den sind. Minu­ten, Stun­den­lang, hop­pelnt im Jeep durch die Schlag­loe­cher Javas, High­speed­bus­fah­ren durch Thai­land… Man schaut aus dem Fens­ter, die Welt ver­schwimmt all­maeh­lich und Dinge kom­men lang­sam aus den hin­ters­ten Ecken des Gehirns und neh­men neue Gestalt an. Eini­ges wird kla­rer, neue Erleb­nisse mischen sich dazu, bil­den ganz neue Erkennt­nisse. Mal gut, mal schlecht. End­lich Zeit die­sen Gedan­ken freien Lauf zu lassen…
    Schoen war es Johan­nes! Ich wuen­sche eine gute Heim­kehr! Cici

    1. klys says:

      es war sehr schön, cici, abso­lut! gleich geht es zum flug­ha­fen, eine etwas weni­ger schöne nacht dort auf mei­nen flug am mor­gen war­ten. wir müs­sen unbe­dingt mal wie­der quat­schen… wo treibst du dich jetzt rum?

    2. Cici says:

      Bin jetzt gerade noch in Utah. Mach mich aber am Frei­tag auf den Weg gen Sue­den. Mexico ruft! Viel­leicht erwisch ich Dich ja mal online… Ach ja. Viel Glueck!

  9. Jens says:

    Hallo Johan­nes,

    ach wie war ist die­ser Post wie­der von dir! Genauso geht es mir, auf Rei­sen oder an der Super­markt­kasse! Beimm Rei­sen ist die „Warte- und Denk“-Zeit län­ger, aber auch im All­tag kann ich die kurzen„Wartezeiten“ sinn­voll mit Gedan­ken fül­len und das sind dann wirk­lich rich­tig ent­span­nende Minu­ten – die lei­der kaum jemand erkennt! ;-)

    1. klys says:

      jens, ich glaube das ist die größte kunst, das im all­tag unter­zu­brin­gen… ich hoffe, dass es mir auch gelingt…

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