Es war nur ein kur­zer Flug mit der klei­nen, ein­mo­to­ri­gen Maschine durch den dich­ten Nebel der her­auf­zie­hen­den Nacht. Die Sicht nach drau­ßen war de facto nicht vor­han­den, die Pilo­ten ori­en­tier­ten sich über weite Stre­cken nur am künst­li­chen Hori­zont und den moder­ne­ren Navigationsgeräten.

Es war Nacht, als wir unser Ziel erreichten.

Die west­si­bi­ri­sche Stadt Tomsk, die sich rühmt, die Älteste in der jun­gen Geschichte Sibi­ri­ens zu sein, liegt nur wenige Flug­stun­den vom moder­nen Flug­ha­fen Novo­si­birsks entfernt.

Auf der Fahrt vom Flug­ha­fen zum Hotel begrüßt mich der bekannte,  typi­sche Mix aus avan­gar­dis­ti­scher und sozia­lis­tisch-Klas­si­zis­ti­scher Archi­tek­tur, der eigent­lich alle grö­ße­ren Städte im Kern­land der ehe­ma­li­gen UDSSR bis heute prägt.

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Russ­land ohne Rus­sisch­kennt­nisse indi­vi­du­ell zu berei­sen ist nicht wirk­lich ein­fach. Ich freue mich daher um so mehr, als mir beim Abend­essen im Hotel als Gast­ge­schenk ein im Stil von Dor­ling Kin­ders­ley gehal­te­ner, vor­bild­lich bebil­der­ten, Stadt­füh­rer in Deutsch über­reicht wird. Das Buch, das durch die große Gemeinde Russ­land­deut­scher in Tomsk her­aus­ge­ge­ben wird, hat lei­der nur eine sehr geringe Auf­lage und die Bezugs­quel­len sind dürf­tig. Hier sollte für zukünf­tige Rei­sende unbe­dingt nach­ge­bes­sert werden.

Der Tag war lang, das Essen gut und reich­lich. Der kli­schee­haft rot beleuch­tete Strip­club auf mei­nem Hotel­flur, ein Uni­kum, erscheint deut­lich weni­ger reiz­voll als mein Bett, in das ich wie ein Toter falle.

Müde wird mir beim mor­gend­li­chen Blick aus mei­nem Fens­ter in den grauen Sep­tem­ber­mor­gen klar, dass ich viel­leicht doch nicht die ideale Rei­se­zeit erwischt habe. Tie­fer Nebel hängt über der Stadt , es reg­net und ist emp­find­lich kühl.

Ich will in mei­ner kur­zen Zeit hier so viel wie mög­lich sehen, daher fahre ich als ers­tes, durch strö­men­den Regen, ins Kosa­ken­dorf Cemiluzhenskij.

Als ich mich durch den Schlamm stap­fend der höl­zer­nen Fes­tung, die derer sibi­ri­scher Wehr­bau­ern nach­emp­fun­den ist, nähere, wird mir ein über­aus herz­li­cher Emp­fang bereitet.

Don­nernd begrüßt mich der Ata­man der Neo-Kosa­ken, Wla­di­mir. Der ehe­ma­li­ger Poli­zist und Begrün­der der Bewe­gung der Neo-Kosa­ken im Tom­sker Raum, hatte die Wehr­an­lage prak­tisch im Allein­gang erbaut. Sofort wird klar, dass man hier kein Schau­spiel für Tou­ris­ten auf­führt, die Men­schen leben ihre selbst gewählte Rolle.

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Wla­di­mirs Frau reicht, in guter Tra­di­tion Salz und Brot zur Begrü­ßung und der Chor jun­ger Kosa­ken singt rus­si­sche Volks­wei­sen, die das Herz erwärmen.

Schlech­tes Wet­ter und Kälte sind schnell ver­ges­sen als man mich ins Innere der aus rohen Holz­bal­ken gezim­mer­ten Fes­tungs­an­lage gelei­tet. Dort genieße ich die herz­li­che Gast­freund­schaft der Bewoh­ner Cemi­luz­hens­kijs. Der Tee ist heiß und die weh­mü­ti­gen Lie­der des alte Akkor­de­on­spie­ler im Kreis der sin­gen­den Babusch­kas las­sen nost­al­gi­sche Gefühle auf­kom­men. Man wähnt sich in einer ver­gan­ge­nen, sehr viel ein­fa­che­ren Zeit und hängt melan­cho­li­schen Gedan­ken nach.

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Ich nehme mir die Zeit, die kleine ortho­doxe Holz­ka­pelle zu besich­ti­gen, erfreue mich an der Schlicht­heit zweck­mä­ßi­ger Hand­werks­ar­beit und sehe jun­gen Kosa­ken in Ket­ten­pan­zern bei Wehr­übun­gen zu. Als Gast fühlt man sich hier wirk­lich will­kom­men und man ver­si­chert mir, dass Besu­cher die den Weg nach Cemi­luz­hens­kij fin­den, herz­lich ein­ge­la­den sind auch hier zu näch­ti­gen. Ich muss das Ange­bot lei­der aus­schla­gen, der nächste Ter­min war­tet schon auf mich.

Lang ist die Fahrt und schlecht sind die Stra­ßen, die mich nach Vyso­koe, mei­nem zwei­ten per­sön­li­chen High­light an die­sem Tag füh­ren. Auch hier bre­chen ich tra­di­tio­nell Brot und Salz zur Begrü­ßung mit mei­nen Gast­ge­bern. Mein Gast­ge­schenk, die kleine Puppe einer sti­li­sierte Frau mit mons­trö­sen Brüs­ten, die ich unter wohl­wol­len­den Geläch­ter ent­ge­gen­nehme, erkläre ich den Anwe­sen­den mit „Viel Milch für das Baby“ , es sind noch zwei Monat bis zur Geburt mei­nes jüngs­ten Sohnes.

Natür­lich bleibe ich zum Essen und nicht nur aus Höf­lich­keit, denn es wird ganz groß auf­ge­fah­ren. Die Tische bie­gen sich fast unter der Last von Sup­pen, Hühn­chen, geräu­cher­tem Fisch, Käse, dem obli­ga­to­ri­schen Vodka und als beson­dere Spe­zia­li­tät Zir­bel­kie­fer­schnaps. Der ist mir eine Num­mer zu hart, wäre aber als Rake­ten­treib­stoff oder Flä­chen­des­in­fek­ti­ons­mit­tel gut geeig­net, denke ich.

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Zu Beginn wird laut gesun­gen und getanzt, mit fort­schrei­ten­der Stunde und stei­gen­dem Vod­ka­ver­brauch wird dann sogar noch lau­ter gesun­gen und noch wil­der getanzt. Die Stim­mung ist aus­ge­las­sen, mehr­fach trinke ich auf die Bru­der­schaft zwi­schen Deut­sche und Rus­sen, der poli­ti­schen Krise zum Trotz.

Selbst­ver­ständ­lich gibt es auch hier eine rus­si­sche Banja. Doch ich ver­bringe die letz­ten Tages­licht­stun­den lie­ber mit einem Streif­zug durch die weite, länd­li­che Umge­bung. Ich bin ein Gast aus dem Aus­land und damit für meine neuen rus­si­schen Freunde unge­fähr so selbst­stän­dig wie ein Klein­kind. Dem­entspre­chend erklärt man mir oft, ich möge mich nicht ver­lau­fen, vor der Dun­kel­heit zurück sein und ich solle mich vor den Bären hüten. Erst als ich ver­spre­che vor­sich­tig zu sein, die Wege nicht zu ver­las­sen und um eine ver­ab­re­dete Uhr­zeit wie­der zurück zu sein, lässt man mich sicht­bar schwe­ren Her­zens ziehen.

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Der Him­mel ist blei­ern und die offene, von Fel­dern und klei­nen Bir­ken­wäld­chen durch­zo­gene Land­schaft, brei­tet sich nahezu mono­chrom vor mir aus. Es ist selt­sam still und kein Wind­hauch regt sich. Nur hier und da heben sich kleine tief­rote Bee­ren wil­der Hage­but­ten oder gleich­sam gefärb­tes Eschen­laub wie Bluts­trop­fen, vom herbst­li­chen Ein­heits­gelb ab.

Ich folge gut aus­ge­tre­te­nen, aber schon alten Bären­pfa­den in die Fel­der und genieße nach dem Tru­bel des Tages für ein paar Momente die Stille und die Einsamkeit.

Nach weni­ger als zwei Stun­den ist es mit der Ruhe jäh vor­bei, ein wild hupen­der PKW quält sich über die Feld­wege. Ich habe einen Ver­dacht, der sich kurz dar­auf bestä­tigt. Bereits kurz nach mei­nem Auf­bruch war man vol­ler Sorge über­ein gekom­men, dass ich, völ­lig lebens­un­tüch­tig, alleine in der Wild­nis unter­wegs sei und drin­gend Ret­tung bedürfe. Ich bin gerührt vor so viel Sorge um mich und ver­su­che erst gar nicht zu dis­ku­tie­ren, der Aus­flug ist für mich vorbei.

Zurück auf dem rau­schen­den Fest geht die Stim­mung unter reich­lich Vodka und Schnaps ihrem Höhe­punkt ent­ge­gen. Nata­lia, Gast­ge­be­rin und Geburts­tags­kind for­dert zum Trin­ken auf. Wer jetzt glaubt, er käme mit einem Glas davon irrt. Es kos­tet mich eini­ges an Über­re­dung und viele Kom­pro­misse nicht bewusst­los ins Hotel getra­gen wer­den zu müssen.

Die Heim­fahrt ist lange, die Müdig­keit, durch den Alko­hol nur ver­zö­gert, schlägt zu spä­ter Stunde dop­pelt zurück. Déjà vu, ich falle tot ins Bett und stehe müde wie­der auf, Murmeltiertag.

Wenigs­tens das Wet­ter spielt heute mit. Sogar die Sonne lässt sich hier und da bli­cken, als ich mich auf­ma­che, um am 410. Geburts­tag der Stadt ganz vorne mit dabei zu sein. Hilf­reich zur Seite ste­hen mir dabei nach einem Besuch des Rus­sisch-Deut­schen Hau­ses Tomsk des­sen Lei­ter, Alex­an­der Geier, der über gute Deutsch­kennt­nisse und ein noch bes­se­res Geschichts­wis­sen verfügt.

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Die Stadt­feier beginnt auf dem „Auf­er­ste­hungs­berg“ (Vos­kres­naja gora), dem his­to­ri­schen Kern der Stadt, auf dem der Grund­stein Tom­sks vor 430 Jah­ren gelegt wurde.

Neben vie­len Bür­gern der Stadt haben sich auch einige Ree­nact­ment Grup­pen in zeit­ge­nös­si­schen Kos­tü­men mit zeit­ge­nös­si­schen Waf­fen hier ver­sam­melt. Sol­da­ten, Kosa­ken, Kauf­leute in auf­wän­di­gen his­to­ri­schen Gewän­dern stel­len Sze­nen aus der Grün­dungs­zeit der Stadt nach. Die Bühne vor dem Erlö­ser­turm dient zur Schau­stel­lung von mehr oder weni­ger gutem Gesang oder dem Nach­er­zäh­len der Gründergeschichte.

Der Bür­ger­meis­ter per­sön­lich feu­ert um Punkt 12 Uhr eine his­to­ri­sche Kanone ab und läu­tet damit die Fest­lich­kei­ten offi­zi­ell ein. Ein far­ben­fro­her Umzug, teils his­to­risch gewan­det, macht sich auf den Weg in die Stadt. Ich folge dem Zug bis zum gro­ßen Stadt­park, wo zwi­schen Ree­nact­ment ver­gan­ge­ner Schlach­ten, Floh­markt und den obli­ga­to­ri­schen Reden Offi­zi­el­ler, die Fei­er­lich­kei­ten in vol­lem Gange sind.

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Archi­tek­to­nisch hat die Stadt viel zu bie­ten, berühmt machen Tomsk jedoch vor allem seine alten, teils schön restau­riert, teils in bedau­erns­wer­tem Zustand ver­fal­le­nen Holz­häu­ser, die alle­samt unter Denk­mal­schutz ste­hen. In Museen las­sen sich viele schöne Holz­fas­sa­den besich­ti­gen, die teil­weise vor den Flam­men bren­nen­der Häu­ser in Sicher­heit gebracht wer­den mussten.

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Ein Besuch des Stadt­ge­schicht­li­chen Muse­ums run­det mei­nen Besuch ab, bevor ich, noch am glei­chen Abend nach Nowo­si­birsk zurück­fah­ren muss.

Für alle his­to­risch inter­es­sier­ten Sibi­ri­en­rei­sende, führt an Tomsk prak­tisch kein Weg vor­bei. Die älteste Stadt die­ser weit­läu­fi­gen, dünn besie­del­ten Land­schaft, die stets For­schungs­rei­sende und Lite­ra­ten glei­cher­ma­ßen inspi­rierte, bie­tet zuviel geschicht­li­ches, um ihr einen Besuch zu ver­sa­gen. Im Gegen­satz zu vie­len ande­ren tou­ris­tisch inter­es­san­ten Städ­ten Russ­lands gibt sich die Stadt­ver­wal­tung red­lich Mühe, Rei­sen­den den Auf­ent­halt zu ver­ein­fa­chen. Das beginnt beim Direkt­flug von Nowo­si­birsk, wel­ches sei­ner­seits zu einem klei­nen aber doch inter­na­tio­na­len Dreh­kreuz avan­cierte und endet nicht mit einer Beschil­de­rung der Stadt in Eng­lisch für des Kyril­lisch nicht mäch­tige Rei­sende. Trotz poli­ti­scher Krise waren die Men­schen stets aus­ge­spro­chen gast­freund­lich, mehr noch als ich es bis­her im west­li­chen Teil Russ­lands erlebt habe. Das Tom­sker Umland bie­tet nicht nur kul­tu­rell son­dern auch land­schaft­lich reiz­volle Gegen­den und sicher ein gro­ßes Poten­tial für natur­na­hen Tou­ris­mus, der jedoch aber kaum ent­wi­ckelt ist.

Wie in Russ­land üblich ist Indi­vi­du­al­tou­ris­mus, beson­ders durch Aus­län­der lei­der ein wenig beach­te­tes Phänomen.

Sprach­kennt­nisse, ein Füh­rer mit Orts­kennt­nis­sen, sowie eige­nes Fahr­zeug sind eigent­lich ein Muss, will man seine Zeit auch außer­halb der Stadt ver­brin­gen. Länd­li­che Unter­künfte, so reiz­voll sie auch sein mögen, lie­gen weit ab vom Schuss und sind, wie in ande­ren Lan­des­tei­len auch, prak­tisch nie beschildert.

Hierin liegt viel­leicht der beson­dere Reiz, sicher aber die Her­aus­for­de­rung beim Reisen.

Für den Auf­ent­halt in der Natur gilt dazu in beson­de­rem Maße Vor­sicht, denn bei­spiels­weise die Sorge vor Bären, die sehr häu­fig sind, ist kei­nes­falls über­trie­ben. Immer wie­der kommt es zu Todes­fäl­len durch die gro­ßen Raub­tiere, öfter jedoch durch den teil­weise gesetz­los anmu­ten­den Straßenverkehr.

Wer auf nied­rige Preise, wie er sie aus ande­ren ehe­ma­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken gewöhnt ist, spe­ku­liert, wird jedoch schnell eines bes­se­ren belehrt. Zwar ist der aktu­elle Wech­sel­kurs des Euro zum Rubel für euro­päi­sche Rei­sende sehr güns­tig, doch all­ge­mein ist das Preis­ni­veau hoch. Russ­land ist gene­rell kein güns­ti­ges Rei­se­ziel und Sibi­rien macht dabei keine Ausnahme.

Sibi­rien ist kein Rei­se­ziel der brei­ten Masse und wird es auf abseh­bare Zeit auch nicht wer­den. Zuviele Hin­der­nisse, von poli­ti­schen bis infra­struk­tu­rel­len ste­hen dem ent­ge­gen. Wer Russ­land mag, wird Sibi­rien hin­ge­gen lie­ben und es genie­ßen als Aus­län­der, fernab der aus­ge­tre­te­nen Tou­ris­ten­pfade ein Exot zu sein.

Diese Pres­se­reise wurde orga­ni­siert durch HARTZKOM und OLYMPIA REISEN SIBIR

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Till Schönherr

Ist weit gereist aber heute im Hauptberuf Vater zweier Söhne, im Nebenberuf Arzt. Reist immer noch gerne und so oft wie möglich und dank seiner toleranten Frau auch regelmäßig noch alleine.Photographie ist sein Hobby.

  1. Amelie says:

    Sehr beein­dru­cken­der Bei­trag. Wollte auch mal nach Sibi­rien rei­sen aber habe bis­her kein gutes Ange­bot gefun­den. Freue mich schon drauf. Viele grüße aus Sankt Christina

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