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Laut klatschend bricht die Welle über dem Bug. Dicht gefolgt von der nächsten. Und der nächsten. Das kleine Boot rollt im Rhythmus der stampfenden Wogen, pflügt eher durch die Wellen, als wie gewohnt elegant darüber hinwegzugleiten. Gischt sprüht uns um die Ohren, eiskaltes Wasser ergießt sich übers Deck. Die Spritzdecken vermögen kaum mehr Schutz zu bieten, längst sind wir völlig durchnässt.
Der Wind kommt erst von vorn, dann von achtern, von der Seite, wieder von vorn; versucht bei jedem Paddelschlag gierig nach dem erhobenen Paddelblatt zu schnappen. Stürmisch fallen die Böen über uns her, drücken uns hierhin und dorthin. Über eine Stunde geht das nun schon so. Über eine Stunde legen wir uns nun schon in die Riemen – und sind doch kaum einen Kilometer vorangekommen. Langsam macht sich Erschöpfung breit, aber das nahe Ufer zeigt sich abweisend schroff. Keine Möglichkeit irgendwo anzulanden. Und abzuwarten. Auszuruhen. Längst haben wir es aufgegeben, bei jeder weiteren großen Welle beizudrehen, um deren Wucht frontal abzufangen.
Es dauert noch eine weitere ungemütliche halbe Stunde bis wir endlich die leidlich geschützte Bucht hinter einer vorgelagerten Halbinsel erreichen, die Paddel von uns werfen und die Kajaks auf den Kiesstrand ziehen können. Eine halbe Stunde – die uns doch nur wenige hundert Meter voranbringt. Längst nicht so weit, wie eigentlich geplant. Dabei hatte der blaue Himmel am Morgen noch eine durchaus angenehme letzte Etappe dieser Kajaktour in den malerischen Fjorden Südgrönlands versprochen. Und selbst jetzt, da wir mit müden Muskeln am Ufer hocken, lässt die strahlende Sonne uns träge blinzeln. Nur mit dem Wind … mit diesem heftigen Wind hatten wir nicht mehr gerechnet.
Ein ganz natürliches Phänomen, wie wir später erfahren sollten: Die von der Sonne erwärmte Luft (und über Mangel an Sonnenschein konnten wir uns wahrlich nicht beklagen) steigt über Fjord und nahem Eis auf und erzeugt einen Unterdruck, der vom Meer her weitere Luft förmlich ansaugt, die dann als kräftiger Wind durch das schmale Tal fegt. Jene Sturmböen also, die uns – in der (vergeblichen) Hoffnung, im Schutz der Berge am gegenüberliegenden Ufer etwas besser voranzukommen – dazu bewogen hatten, das Wagnis einzugehen und den Fjord zu queren … mitten durch die kabbelige See.
Für Stunden harren wir am Ufer aus, starren sorgenvoll aufs sturmgepeitschte Wasser. Allein – es ändert nichts: Der Wind lässt nicht nach, die See kommt nicht zur Ruhe. Wir müssen uns damit abfinden, hier und heute nicht weiterzukommen. Die Sonne strebt bereits dem Horizont entgegen (auch wenn sie in diesen hohen Breiten noch lange dort verweilen wird); es ist an der Zeit, das Lager zu errichten. Ein Unterfangen, das der nimmermüde Wind von neuem und immer wieder von neuem zu durchkreuzen sucht. Viel länger als sonst dauert es, bis die beiden Zelte endlich stehen und wir fühlen uns erst wohler, als sie zusätzlich mit schweren Steinen, die wir vom Strand herauftragen, abgesichert sind.
Eine Exkursion ins Hinterland lässt zur Gewissheit werden, was der Blick auf die Karte freilich längst offenbart hatte: Als wir einen Bergsattel erklimmen, können wir in der Ferne die ersten Häuser der kleinen Ortschaft Nanortalik auf einer benachbarten Insel erkennen – von der uns allerdings ein weiterer breiter Meeresarm trennt. Der auf einem nahen Gipfel erspähte Sendemast verdeutlicht, wie nah wir bewohnten Gefilden inzwischen wieder gekommen sind. Telefonempfang? Seit Wochen mussten wir ohne auskommen … und waren so traurig darüber eigentlich nicht. Nun aber, wo sich unsere angekündigte Rückkehr wegen des Sturmes zu verzögern droht, kommen die Errungenschaften moderner Zivilisation nicht ungelegen. Für einen Anruf reicht es zwar nicht, aber immerhin gelingt es, eine Nachricht an Niels abzusetzen, in der wir die Lage kurz schildern und den erneuten Versuch, am folgenden Tag in See zu stechen, ankündigen können.
Niels, von dem wir uns gut zwei Wochen zuvor verabschiedet hatten. Der uns vertrauensvoll die drei Kajaks überlassen und uns alles Gute für das bevorstehende Abenteuer gewünscht hatte: Den Tasermiut-Fjord hinauf bis zum Gletscher an dessen Ende. Hin und wieder zurück. Mitnichten unsere erste Paddeltour in arktischen Gewässern – zwei Mal schon haben wir zuvor die Küsten Grönlands und diese urwüchsige, einem fernen mythischen Zeitalter entstammende Landschaft mit dem Kajak erkundet. Schon die Reise zum Ausgangspunkt dieser Tour ließ uns in die Erinnerungen früherer Paddelabenteuer eintauchen.
Mit dem Hubschrauber (der in einem Land, dessen gesamtes Straßennetz sich auf nur knapp 100 Kilometer addiert, durchaus als ‚Öffentlicher Personennahverkehr‘ durchgeht) legten wir in kaum einer Stunde den Weg zurück, dem wir sechs Jahre zuvor auf den Spuren von Erik dem Roten und seiner Wikingerschar immerhin drei Wochen lang gefolgt waren. Nun zogen die schroffen Felsklippen und tiefen Fjorde, die eisgesprenkelten Buchten und grünen Täler in rascher Folge unter uns vorüber – und machten so einmal mehr deutlich, dass diese größte Insel der Welt eben nur aus der Ferne betrachtet eine lebensfeindliche Eiswüste ist. Denn gerade hier im Südwesten Grönlands findet sich dem mächtigen Eisschild ein Streifen (wenn auch eher dünn) besiedelten Landes vorgelagert – jene fruchtbaren Täler, die Erik seinerzeit dazu bewogen hatten, in der isländischen Heimat die Werbetrommel für dieses Grün-Land zu rühren.
Bei jedem Zwischenstopp in einer der kleinen Siedlungen mit ihren charakteristisch-farbenfrohen Holzhäusern wechselten Ladung und Passagiere. Bis wir schließlich in Nanortalik fast ganz an der Südspitze Grönlands angekommen waren, hatten die großen in Narsaq eingeladenen Postsäcke längst ein paar in Qaqortoq zugestiegenen Kids Platz gemacht. Nanortalik – das lässt sich mit „Bärenort“ übersetzen und kommt nicht von ungefähr. Die drei Eisbären schmücken das Stadtwappen aus gutem Grund, denn immer wieder gelangen diese weißen Riesen im Frühjahr, wenn das Tauwetter beginnt, mit dem Treibeis bis hierher. Oft genug willkommene Jagdbeute, gelegentlich auch latente Bedrohung. Die Stadt, auf einer kleinen Insel unmittelbar am Ausgang des Tasermiutfjords gelegen, zählt gerade einmal 1.400 Einwohner und ist in ihrer heutigen Form erst 1830 gegründet worden.
Eine strahlend-weiße Kirche dominiert den Ort weithin und ist zugleich Zeugnis der Rolle deutscher Herrnhuter (die hier ganz in der Nähe die Station Lichtenau gründeten) bei der Missionierung der Gröndländer zum Christentum – ebenso wie zahlreiche deutsche Nach- und Straßennamen übrigens. Ein Blick in den Sonntagsgottesdienst freilich macht deutlich, dass es der Kirche in Grönland dieser Tage nicht besser ergeht als anderswo: Kaum eine Handvoll älterer Schäfchen findet sich noch ein, um der auf Grönländisch gehaltenen Predigt zu lauschen.
Am alten Koloniehafen aus dem 18. Jahrhundert (heute ein Museum, in dem selbst nach all diesen Jahren der Geruch von Waltran noch in der Luft hängt) hatte Niels sich von uns verabschiedet, bevor wir uns Paddelschlag für Paddelschlag von Nanortalik entfernten. Im gleichen Maße, in dem die Silhouette der Stadt mit ihrem markanten Kirchturm hinter uns langsam kleiner wurde und allmählich ganz verblasste, haben wir auch die offene See zurückgelassen und sind in die raue Fjordlandschaft unmittelbar voraus eingetaucht.
Schroffe Felsklippen markieren hier die Ufer zu beiden Seiten; hoch, überraschend hoch strebt der Granit hinauf – die Landschaft unterscheidet sich deutlich von dem, was wir von den früheren Grönland-Paddeltouren gewohnt sind: rauer, steiler, höher. Gezackte Spitzen und in die Wolken ragende Zinnen – regelrechte Berge gibt es hier! Dass es sich bei den Gipfeln, deren konsonantenreiche Namen wir gebannt der Karte entnehmen, tatsächlich um beliebte Freikletterziele handelt, bemerkten wir, als wir am vermeintlich einsamen flachen Ufer zu Füßen eines dieser Massive unser Lager aufschlugen und bei einer Wanderung plötzlich mitten in einem beinahe an eine kleine Stadt gemahnenden Klettercamp standen.
Kletterer und Paddler sind natürlich mitnichten die einzigen, die dem genius loci dieser sagenhaften Gegend erliegen – und die ersten sind sie schon gar nicht. Während wir unseren Weg in den Fjord hinein fortsetzten, stießen wir ein ums andere Mal auch auf die Spuren früherer Besucher. Die pittoresk an einem niedrigen aber dafür umso breiteren Wasserfall gelegenen Ruinen eines wohl auch zu seinen besten Zeiten nicht eben übertrieben prachtvollen Klosters (das dem gesamten Tal seinen Namen gab) legen Zeugnis davon ab, dass die Mönche wohl neben dessen Abgeschiedenheit auch einen Sinn für den Anmut dieses Ortes gehabt haben mochten – wie vielleicht auch jene Nordmänner und ‑frauen, die sich nur ein paar Kilometer weiter flussaufwärts angesiedelt hatten. Wovon heute allerdings nur noch deren überwucherte Gräber zeugen, denn lange hielt sich letzten Endes keine dieser Enklaven auf Grönland. Irgendwann in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts war schließlich jeder Kontakt zu den ‚Grænlendingar‘ genannten skandinavischen Siedlern abgebrochen, waren deren Höfe und Dörfer verlassen. Gut möglich, dass die just in dieser Zeit einsetzende ‘Kleine Eiszeit’ fatale Auswirkungen hatte, als die Temperaturen fielen und Ernten ausblieben. Vielleicht ist es auch zum Konflikt mit den einheimischen Inuit gekommen, allerdings gibt es hier deutlich weniger Spuren der typischen Eskimo-Tunnelhäuser als wir sie an anderer Stelle, näher am Polarkreis, hatten beobachten können.
Ebenso selten stoßen wir erstaunlicherweise auf Eis. Waren blassweiße Schollen und türkisblaue Eisberge frostigen Kathedralen und Palästen gleich bei anderer Gelegenheit ständige Begleiter und oft genug auch Hindernis in Grönlands Gewässern gewesen, begegneten wir ihnen hier nur vereinzelt und ausnahmsweise (was es schwierig machte, das liebgewonnene Ritual aufrechtzuerhalten, jede Ankunft mit einem Schluck Rum auf Gletschereis aus der Emailletasse zu begehen). Der Gletscher am Ende des Fjords ist nicht länger aktiv, hat keine Berührung mit dem Wasser mehr. Immer weiter hat sich das Eis zurückgezogen und gibt nun den Blick auf blankgeschliffenen Granit fei. Hier, wo man die so oft beschworenen Eiskappen unmittelbar vor Augen hat, werden Voranschreiten und Folgen der globalen Erwärmung plötzlich sehr real und im Wortsinne begreifbar. Fahler Fels, wo noch vor kurzem das Eis ruhte. Weniger als zwei Jahre zuvor sah das nämlich noch anders aus: Da schoben die aus dem Hinterland drängenden Eismassen sich bis ans Ufer heran und in den Fjord hinein – das hatte Niels uns im kleinen Tourismusbüro von Nanortalik auf Fotos gezeigt.
Niels, der die Nachricht von unserer Sturmzwangspause doch hoffentlich erhalten haben und ob der Verspätung nicht an unserem Verbleib (oder schlimmer noch unseren paddlerischen Fähigkeiten) zweifeln wird (tat er nicht; wie sich später herausstellen sollte, hatte er das alles weit gelassener hingenommen als wir). Mit der Dämmerung kommt auch die Kälte und wir ziehen uns in die wärmenden Schlafsäcke zurück – keiner allerdings mit dem ernsthaften Gedanken, tatsächlich sonderlich viel Schlaf zu finden, denn der Wind zerrt am Zelt, dass einem bange werden könnte. Die ganze Nacht über wütet der Sturm, zeigt auch am Morgen keine Erschöpfung.
Wir sind gezwungen, weiter auszuharren und den Robben draußen in der Bucht beim Synchronrückenschwimmen zuzuschauen. Immerhin aber erspähen wir so auch den kleinen Wal, der gemächlich Richtung Meer vorbeizieht und nicht sonderlich beeindruckt von Wind und Wellen scheint. Mit seiner mächtigen Fluke winkt er uns kurz vorm Abtauchen einen lässigen Abschiedsgruß zu. Wir, die wir zurückbleiben, müssen uns, als die Sonne den Zenit überschreitet, wohl allmählich mit dem Gedanken anfreunden, dass auch an diesem Tag an Aufbruch nicht mehr zu denken sein wird. Der Wind lässt nicht nach, die See kommt einfach nicht zur Ruhe. Der Abend senkt sich über den Fjord und mit mürrischem Blick zu den am Ufer abgelegten Kajaks zurren wir die Zeltleinen noch einmal fester.
Und wir haben gut daran getan, denn auch diese Nacht ist erfüllt von Pfeifen und Rütteln – als würde eine johlende Meute Trolle ums Zelt jagen. Bis sie im Morgengrauen plötzlich verstummen, die Trolle. Kein Pfeifen, kein Rütteln. Stille. Ein vorsichtiger Blick aus dem Zelt offenbart einen unschuldig blauen Himmel; kein einziger Grashalm, der sich wöge. Wind-Stille. Hastig brechen wir das Lager ab, packen, stopfen Ausrüstung und Vorräte in die Boote. Die Gelegenheit ist günstig! Aufbruch. Endlich, Aufbruch! Wir legen ab, tauchen die Paddel schwungvoll ins Wasser. Hinaus aus der Bucht, hinaus auf den Fjord. Und tatsächlich: Die See liegt ruhig, geradezu unbeteiligt vor uns. Als hätte es Sturm und Wellen und Schaumkronen nie gegeben.
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Hallo Jens,
danke für diesen sehr schönen Bericht! Du schreibst so anschaulich, dass man den Wind pfeifen und die Paddel platschen hört. Die Skizzen und Aquarelle find ich auch superschön, eine tolle Bereicherung für einen Reisebericht. Ich wünschte, ich könnte auch so schön zeichnen 😉
Viele Grüße,
AndreaOh, vielen Dank für die netten Worte, Andrea! Freut mich, dass Dir Text und Zeichnungen gefallen. Genaugenommen erinnert mich das daran, doch recht bald einmal etwas neues beizutragen. Skizzen- und Tagebuch sollten das eigentlich hergeben. 😉
Viele Grüße zurück,
Jens
Wahnsinns Bilder 🙂
Was für ein Abenteuer 🙂 Definitiv eine interessante Reisedestination. Mir persönlich aber leider zu kalt 🙁LG Kevin
Also, ohne jetzt hier einen Mythos demontieren zu wollen, aber im Sommer ist es eigentlich – zumindest jenseits des Eisschildes – gar nicht so kalt. An manchem sonnigen Tag hatten wir gar 20°C und konnten gelegentlich auch mal im T‑Shirt paddeln. Wenn’s nicht gerade geregnet oder gestürmt hat. 😉
Unfassbar schöne Bilder und eine tolle Geschichte. Grönland ist echt atemberaubend.
Beste Grüße aus dem DefereggentalAuch Dir vielen Dank! Atemberaubend – das trifft es auf den Punkt (wenn man z.B. morgens von einem Schnauben auf dem Wasser geweckt wird, aus dem Zelt schaut und zwei Wale gemächlich vorüberziehen 😉 ).
Diese Reise darf sich noch »echtes Abenteuer« nennen. Die Bilder sind auch wirklich toll 🙂 Aber bei der schönen Natur ist das auch leicht 😉
Zugegeben, richtig schlechte Bilder zu machen, dürfte da wohl wirklich schwer sein. Ein Abenteuer war die Reise auf jeden Fall. In vielerlei Hinsicht. 😉
Echt schöne Bilder! Ich war vor ein paar Jahren in Gröndland und möchte unbedingt wieder hin.
Also, DAS kann ich ziemlich gut nachvollziehen. 😉 Waren inzwischen drei mal mit dem Kajak an Grönlands Küste unterwegs und noch immer keine Spur von Überdruss.
Wow, was für ein toller Beitrag und was für tolle Bilder! Supersuper!
Vielen Dank für das Kompliment! Freut mich natürlich, wenn’s gefällt.
WOW, was für ein Abendteuer. Aber gut, dass ich so lange ausgeharrt habt – es hat sich ja zum Schluss gelohnt für ein super Wetter.
Und Niels hat bestimmt schon öfter seine Kajaks verliehen und wusste dass bestimmt schon einige später erst wiedergekommen sind 😉LG
MelAuf jeden Fall – allein die großartige Landschaft macht Grönland natürlich zu einem immer lohnenswerten Reiseziel. Und so ein bißchen Wind gehört dann eben auch dazu. 😉
Du hast natürlich recht, was den guten Niels betrifft. Der hat das ganz entspannt und abgeklärt gesehen. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es da dann wohl nicht mehr an. Dachte übrigens wohl auch Air Greenland, die uns (nachdem wir wegen Nebels unsere Mitfluggelegenheit zum Flughafen und damit den Heimflug Richtung Kopenhagen verpasst hatten) noch ein paar zusätzliche Tage beherbergen mussten (bis der nächste Flug nach Dänemark ging) … aber das ist eine andere Geschichte. 😉
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