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Fernweh? Komische Sache das!

Bei Hals­weh tut der Hals weh, bei Kopf­weh der Kopf und bei Fern­weh tut was weh? Die Ferne? Oder irgend etwas, das in der Ferne liegt? Irgendwo da, wo wir gerade nicht sind? Wo es uns hinzieht?

Mein ers­tes Fern­weh sah so aus: Ich war zwölf oder drei­zehn Jahre und lief durch die Stra­ßen mei­ner Hei­mat­stadt Köln vor­bei an grauen Rei­hen­häu­ser. Hin­ter ver­gilb­ten Gar­di­nen wehte der Muff der Nach­kriegs­jahre und eine Ahnung von dunk­len Fami­li­en­ge­heim­nis­sen über die nie­mand zu spre­chen wagte. Nazis und Mit­läu­fer, irgendwo muss­ten sie ja woh­nen. Warum also nicht hin­ter die­sen Gar­di­nen der schnell und bil­lig hoch­ge­zo­ge­nen archi­tek­to­ni­schen Sün­den aus den 50ger Jah­ren. Dar­über habe ich damals natür­lich nicht nach­ge­dacht. Aber ich bin sicher, dass es die düs­tere Stim­mung war, die mich zum Haupt­bahn­hof gespült hat. Ich schaute auf wel­chen Glei­sen inter­na­tio­nale Züge anka­men und abfuh­ren und da saß ich dann oft stun­den­lang am Bahn­steig und spürte zum ers­ten Mal so etwas wie Fernweh.

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Fern­weh, das war so etwas wie Sehn­sucht. Auch so ein komi­sches Wort. Seh­nen klingt wie deh­nen. Der Geist dehnt sich end­los hin zu einem Objekt der Begierde: die Mama, ein Stück Sah­ne­ku­chen, oder eine Bar­bie­puppe. Spä­ter dann der Freund oder die Freun­din. Sie haben eines gemein­sam: sie sind nicht da. Ich kann sie nicht haben. Nicht jetzt. Schon mal frisch ver­liebt gewe­sen und der Ange­be­tete ver­reist drei Wochen lang? Seeeeehn­sucht. Man stellt sich vor, wie schön es wäre wenn er plötz­lich durch die Tür träte. Oder man steht am Fens­ter und malt sich aus, er käme über die Straße, er sei über­ra­schend zurück gekom­men. Ach, wäre es doch nur so! Warum nur kann es so nicht sein? Die Sehn­sucht zer­reißt dich, sie lässt dich nicht schla­fen, nicht arbei­ten, sie nagt wie ein wil­des Tier an dei­nem Her­zen. Ach, könnte ich ihn doch nur in die Arme schlie­ßen. Jetzt, hier. – Aber er ist ja nicht da. Des­halb die Sehn­sucht. Die Sucht nach dem seh­nen, nach dem deh­nen des Geis­tes bis er an einem ande­ren Ort, in einer ande­ren Zeit weilt. Wäre er näm­lich da, der Ange­be­tete, im Hier und Jetzt, gäbe es keine Sehnsucht.

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Fern­weh ist so ähn­lich. Ich will irgendwo sein wo ich gerade nicht bin. Es zieht mich dort­hin. Es nagt an mir. Ich male mir aus wie es wäre am Strand zu lie­gen, ich spüre die warme Sonne auf der Haut und den leich­ten Wind­hauch zwi­schen den Blät­tern, wäh­rend ich frie­rend am undich­ten Fens­ter sitze und in den ver­reg­ne­ten, grauen Him­mel schaue. Hier ist es doof und da ist es schön. Des­halb sehnt und dehnt sich mein Geist, er win­det sich und wei­gert sich hier zu sein. Weil er dort sein will.

Wenn ich dann end­lich da bin kann es pas­sie­ren, dass ich Heim­weh bekomme. Also wie­der da sein will, wo ich gerade nicht bin.

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Viel­leicht ist es ja ganz ein­fach: Solange ich prä­sent bin, mit Haut und Haar, mit Herz und Ver­stand, mit Gefühl und Emp­fin­dung im Hier und Jetzt, mich ein­lasse auf das, was da um mich ist, unmit­tel­bar und direkt, dann bin ich ent­we­der hier oder dort, aber immer ganz da. Dann gibt es viel­leicht Kopf­weh wenn ich getrun­ken habe und Hals­weh wenn ich erkäl­tet bin. Aber weder Fern-noch Heimweh.

Cate­go­riesWelt
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Gitti Müller

Mein erster Anfall von Fernweh hat mich 1980 ein Jahr lang als Backpackerin nach Südamerika geführt. Damals wog so ein Rucksack noch richtig viel und das Reisen war beschwerlich. Seitdem kann ich es einfach nicht lassen. Heute habe ich vor allem einen Laptop und meine DSLR im Gepäck. Als Fernseh-Journalistin und Ethnologin komme ich viel rum aber in Lateinamerika fühle ich mich einfach wie zu Hause. Damit ich auch in abgelegenen Andenregionen ein Schwätzchen mit den Leuten halten kann habe ich die Indianersprachen Aymara und Quechua gelernt.
Im Mai 2017 hat der Piper-Verlag mein Buch "Comeback mit Backpack - Eine Zeitreise durch Südamerika" herausgebracht (ISBN-10: 3890291422, 272 Seiten mit Fotos) Es erzählt von meinen Reisen in analogen und in digitalen Zeiten.

  1. Basti says:

    ich finde es immer wie­der inter­es­sant, wie ver­schie­den man das Fern­weh aus­drü­cken kann . Mir befiehlt mein Fern­weh immer, im Win­ter zur Sei­ser Alm zu fah­ren. Die Schnee­land­schaf­ten und die Stille sind dort ein­fach unver­gleich­lich… liebe Grüße

  2. beccy says:

    Was für ein schö­ner Post. Ich habe auch schon sehr span­nende Erfah­run­gen mit Fern­weh gemacht, ein selt­sa­mes Gefühl. Beson­ders, wenn man im Hier und Jetzt eigent­lich abso­lut glück­lich ist, aber wie aus dem Nichts sich plötz­lich Fern­weh anschleicht und man unbe­dingt woan­ders hin will. Bei mir war es vor kur­zem erst der Levico See, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging.

    1. Gitti says:

      Danke Beccy! Es gibt Orte, die einen manch­mal regel­recht zu rufen schei­nen. Bei mir ist es der Titi­ca­ca­see. Erklä­ren kann ich mir das auch nicht. Aber ab und zu kehre ich dort­hin zurück und fühle mich danach wie auf­ge­la­den. Liebe Grüße

  3. Norah says:

    Sehr tref­fende Worte Gitti! Vor mei­ner ers­ten lan­gen Reise hatte ich extrem star­kes Fern­weh. Ich wollte end­lich los! End­lich auf­bre­chen! Ich träumte stän­dig davon bereits in Asien zu sein. Als es dann soweit war, wich das Fern­weh jedoch nur für einen kur­zen Moment…

    Dann das Unfass­bare – Fern­weh in der Ferne! In Thai­lands Süden sehnte ich mich nach Thai­lands Nor­den. In Kam­bo­dscha sehnte ich mich nach Viet­nam. Und in Viet­nam nach Süd­ko­rea… Dabei habe ich erst­mals fest­ge­stellt, wie wich­tig es ist im Hier und Jetzt zu leben. Seit­her ver­su­che ich mich auf die Gegen­wart zu kon­zen­trie­ren – den Moment zu genies­sen, anstatt das Glück in der Zukunft zu suchen. Medi­tie­ren hilft mir mich zu erden (das klingt irgend­wie schreck­lich eso­te­risch, ist aber so… :))

    Trotz­dem kann ich meine vie­len Tag­träume nicht ein­fach wie einen Radio oder einen Fern­se­her aus­schal­ten. Eine kleine (ok…, manch­mal auch etwas grös­sere) Por­tion Fern­weh gehört wohl zu jedem Rei­sen­den dazu :)

    1. gitti says:

      Liebe Norah,
      Den Moment zu genies­sen ist auf jeden Fall ein gutes Rezept für Zufrie­den­heit in der Ferne und auch zu Hause, das hast du Recht. Und Medi­ta­tion hilft da!
      Fern­weh in der Ferne, das hatte ich noch nicht, hört sich aber inter­es­sant an.
      Ich kann mich auch nicht ganz frei machen von Fern­weh. Tag­träume und ein biss­chen Sehn­sucht nach der Ferne scha­det ja auch nix. Manch­mal ist es der Antrieb zu etwas Neuem. Gut so!

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