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Die Dinge, die zu Hause nicht passieren

Es ist mein drit­ter Tag in Kanada. Ich kämpfe noch mit dem Jet­lag, ich habe Kopf­schmer­zen, ich bin erschöpft – und über­glück­lich. Vor ein paar Stun­den erst bin ich von mei­nem Hotel im Dro­gen­vier­tel umge­zo­gen in meine neue Bleibe, 100 Meter sind es von hier aus zum Strand, gerade bin ich sie zum ers­ten Mal gelaufen.

Und nun stehe ich am Sun­set Beach in Van­cou­vers West End, ich schaue auf den Ozean, auf die Berge und die Schiffe am Hori­zont. Von hier aus wir­ken sie ganz klein.

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Die Sonne geht unter, ich mache ein Foto, da höre ich hin­ter mir jeman­den schnau­fen. Ein Mann, blond, etwa so alt wie ich. Er ist gelau­fen und außer Atem, er stützt die Hände auf die Knie, blickt auf und fragt: „Soll ich ein Foto von Dir machen?“ Wir stel­len ein­an­der vor, Name, Her­kunft, nice to meet you. Er sagt mir, wo ich mich hin­stel­len soll, drückt zwei, drei­mal auf den Aus­lö­ser, gibt mir das Tele­fon zurück. Ich bedanke mich und will mich schon umdre­hen, als er sagt: „Ich war gerade auf dem Weg in das Pub da unten, ich treffe mich dort mit ein paar Kum­pels. Komm doch mit!“

Und so lerne ich Ryan kennen.

Ryan und seine Freunde. Die mich drei Tage spä­ter, an mei­nem ers­ten Wochen­ende in Van­cou­ver, mit­neh­men auf eine Party in Down­town. Bei der ich im 21. Stock­werk auf dem Bal­kon stehe und mir die Aus­sicht die Spra­che verschlägt.

Die alten Gefühle sind mitgekommen

Es ist mein zehn­ter Tag in Van­cou­ver. Wie­der Sun­set Beach, wie­der Son­nen­un­ter­gang, nur keine Eupho­rie dies­mal. Ich bin trau­rig. Zum ers­ten Mal seit ich hier bin. Trau­rig, weil jemand sich nicht mel­det, von dem ich es mir so sehr gewünscht hatte. Ich schaue auf den Ozean, auf die Berge und die Schiffe am Hori­zont und denke, dass man eben doch nicht so ein­fach abhauen und alles hin­ter sich las­sen kann, dass eben doch nicht auto­ma­tisch ein neues Leben beginnt, nur weil man ans andere Ende der Welt gezo­gen ist. Die alten Gefühle, die Ängste, sie lie­gen nicht in einer Kiste in mei­nem Kel­ler bei den Büchern und Kla­mot­ten, nein, sie sind immer noch bei mir, ich habe sie alle­samt mitgenommen.

Und bevor ich mich ver­liere, kom­men mir zwei Män­ner und eine Frau ent­ge­gen, genau an der Stelle, an der ich Ryan ken­nen lernte. Einer der Män­ner beginnt, zu posie­ren, die ande­ren bei­den lachen sich schlapp. „Hey Du, sag den bei­den doch mal, wie toll mein Hemd ist“, ruft er mir zu. Das Hemd, es ist hell­blau und erin­nert mich an einen Baby­stramp­ler, scheint län­ger schon Gesprächs­thema zu sein. Ich pflichte ihm im Vor­bei­ge­hen bei. Die drei hal­ten an, wir stel­len ein­an­der vor. Die Frau, stellt sich her­aus, kommt auch aus Deutsch­land. „Wir woll­ten gerade was trin­ken gehen. Komm doch mit!“, sagt der Mann im hell­blauen Hemd.

Und so lerne ich Sophie kennen.

Sophie, die auch noch nicht lange hier lebt. Sophie, mit der sich in kür­zes­ter Zeit eine Freund­schaft ent­wi­ckelt, wie sie so wohl nur in der Fremde zustande kommt. Wir ver­brin­gen zu viert einen fan­tas­ti­schen Abend, an des­sen Ende ich wie­der im Rei­nen mit mir bin. Irgend­was hat sich ja doch schon ver­än­dert, denke ich. Zu Hause wäre ich wohl nicht spon­tan mit Frem­den los­ge­zo­gen, nicht in die­ser Stim­mung. Zu Hause hätte ich sie wohl nicht so schnell wie­der zum Schwei­gen gebracht, diese Stimme, die mir ein­re­den will, dass irgend­et­was falsch läuft und nie­mals wie­der gut wird.

Zu Hause wären all diese Dinge nicht passiert.

Cate­go­riesKanada
Susanne Helmer

Journalistin aus Hamburg, die es immer wieder in die Welt hinauszieht. Gern auch für etwas länger. Am Ende jeder Reise stand bislang immer dasselbe Fazit: Kaum etwas im Leben euphorisiert und bereichert sie so sehr wie das Anderswosein. Und: Reisen verändert.

  1. Hey Susanne,

    schöne Geschichte, bin gro­ßer Fan von dei­nen Tex­ten! Da kann wohl jeder mit­re­den, der ein­mal allein auf Rei­sen war. Genau so erging es mir auch bei mei­ner letz­ten Reise, nur war ich irgend­wie doch froh nach Hause zu kom­men :-) Bin immer wie­der fas­zi­niert, wie sehr eine Reise eine Lebens­an­sicht ver­än­dern kann. Viel­leicht dadurch, dass man in Bewe­gung ist, ist auch alles andere im Fluss und fle­xi­bel. Oh, wie ich es ver­misse auf Rei­sen zu sein und diese Unbe­schwert­heit unter­wegs sein zu kön­nen zu spüren.

    Ande­rer­seits pas­sie­ren man­che Sachen Zuhause, die in der Ferne so nicht pas­sie­ren würden :-)

    Liebe Grüße,
    Mad

    1. Hallo Mad, ich freu mich!
      Das stimmt natür­lich. Bis­lang ist mir aber immer noch Fern­weh ver­trau­ter als Heim­weh. Das klingt ja jetzt kryp­tisch. Was ich damit sagen will? Ich weiß gerad selbst nicht so genau. Aber „Danke“ will ich auf jeden Fall noch sagen. :)

  2. Immer wie­der fas­zi­nie­rend wie schnell man doch Bekannt­schaf­ten schließt.
    Grade beim Rei­sen finde ich es unglaub­lich ein­fach. Grade wenn man irgendwo neu ist.
    Hier zu Hause lerne ich dafür sel­ten neue Leute kennen.

    LG
    Mel

    1. Liebe Mel, so geht’s mir auch und ich frag mich oft: Was kann man von der Reise mit­brin­gen? Kann man irgend­wie dafür sor­gen, dass sol­che Begeg­nun­gen auch zu Hause mög­lich sind?

  3. Dani says:

    Sehr schön geschrie­ben. Nein, die alten Ängste blei­ben nicht zuhause, wenn man umzieht. Oder viel­leicht ja doch, weil man scih ja ein neues Zuhause ein­rich­tet und .. da sind sie wie­der. Trotz­dem kann man aus jedem Neu­an­fang Kraft schöp­fen, etwas zu verändern. :) 

    Grüße aus dem Defer­eg­gen­tal Osttirol

    1. Liebe Dani, genau, das ist der Punkt: Dass man zwar nie ein­fach alles Unlieb­same abschüt­teln, aber doch nach so einem Schritt genü­gend Auf­trieb bekom­men kann. Grüße zurück!

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