Anreise:

Der Bus­bahn­hof von Jammu war ein absto­ßen­der Ort. Über­all lag Müll, die Fas­sa­den und die Straße waren völ­lig her­un­ter­ge­kom­men und es roch erbärm­lich. Ich hatte gerade die Fahrt im Jeep eines Wahn­sin­ni­gen aus Kasch­mir her­aus über­stan­den. Am Bahn­hof traf ich auf zwei Israe­lis, die eben­falls nach Dha­ramsala fah­ren woll­ten und in wil­den Ver­hand­lun­gen ver­such­ten, den Preis für das Bus­ti­cket zu drü­cken. Auch wenn ich sol­che Ver­hand­lun­gen nicht lei­den kann, war ich froh über ihre Gesell­schaft. Die kras­sen Erfah­run­gen mit den Betrü­gern in Kasch­mir saßen mir noch hef­tig in den Kno­chen und die Ver­un­si­che­rung hatte mich nicht verlassen.

Ich werde nie ver­ges­sen, wel­che Luft uns emp­fing, als wir durch die Indus­trie­ge­biete Jam­mus fuh­ren. Es war kein Zufall, dass viele Bus­rei­sende Atem­mas­ken tru­gen. Die Luft war schwarz und rußig, ein­at­men musste um jeden Preis ver­mie­den wer­den. Die unzäh­li­gen Fabri­ken hat­ten offen­sicht­lich keine Fil­ter und ver­ström­ten dicken Qualm, der die Sonne ver­dun­kelte. In meine Nase stie­gen die absto­ßen­den Gerü­che von bren­nen­den Plas­tik­ber­gen und die Abgase der Busse, Autos und Trucks. In der Kom­bi­na­tion erzeugte das ein wider­li­ches und lebens­feind­li­ches Gemisch. Nach der kla­ren Luft in den Ber­gen kam ich mir vor, als wäre ich in die Hölle hinabgefahren.

Die ver­spro­chene Ankunfts­zeit um zwei Uhr mor­gens war nichts als Wunsch­den­ken. Nach einer Höl­len­tour über eine Piste vol­ler Schlag­lö­cher, die mir mehr­fach Kon­takt mit der Decke des Bus­ses ein­brach­ten, wur­den wir um drei Uhr mor­gens vor den Pfor­ten eines Regio­nal­flug­ha­fens abge­setzt. Uns blieb nichts ande­res übrig, als uns einen über­teu­er­ten Wagen nach Dha­ramsala zu tei­len. Um diese Zeit gibt es halt keine große Kon­kur­renz. Die Israe­lis ver­such­ten zwar wie­der, zu ver­han­deln, aber ich ver­spürte keine über­trie­bene Lust, die Nacht auf dem Bord­stein zu verbringen.

Dha­ramsala erreich­ten wir schließ­lich um vier. Wir began­nen den Ort im faden Licht der weni­gen Later­nen zu erkun­den, konn­ten aber kein Gast­haus mit besetz­ter Rezep­tion fin­den. So fro­ren wir eine Stunde in dem dunk­len Kabuff der ört­li­chen Bus­hal­te­stelle vor uns hin. End­lich erspähte uns ein Hotel­an­ge­stell­ter, der in den frü­hen Mor­gen­stun­den auf der Suche nach gestran­de­ten Tou­ris­ten war.

Nach der Ankunft im Gast­haus war ich eupho­risch und die Anspan­nung der letz­ten Woche fiel ein wenig von mir ab. Seit mei­ner Ankunft hatte ich mich nur in Extrem­si­tua­tio­nen bewegt.

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Ich hörte Musik und war­tete noch, bis die Sonne auf­ge­gan­gen war, um einen Blick auf meine Umge­bung zu wer­fen. Das eigent­li­che Dha­ramsala liegt wei­ter unten im Tal, der obere Teil, Mclo­de­on­ganj, ist in den Hang gebaut und von mei­nem Bal­kon hatte ich einen Blick auf die umlie­gen­den Berge.

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Dharamsala / McLodeonganj:

 

In Mclo­de­on­ganj lebt der Dalai Lama. Aus Tibet ist er über den Haupt­kamm des Hima­laja hier­her geflüch­tet und hat von der indi­schen Regie­rung Asyl erhal­ten. Des­halb fin­det sich hier die größte tibe­ti­sche Gemein­schaft außer­halb von Tibet. Noch wei­ter oben liegt Dha­ram­kot, das ursprüng­li­cher und dörf­li­cher daher­kommt und fast keine Sou­ve­nir­lä­den besitzt, dafür einen hohen Hippieanteil.

Lei­der hielt mein posi­ti­ves Gefühl nicht lange an, das Erlebte wirkte zu stark nach.

Ich hatte mich noch nie so fremd und alleine gefühlt wie in die­sen ers­ten Wochen in Indien. Bis­lang war ich recht abge­schirmt von der Armut, hier war ich nun end­gül­tig mit ihr kon­fron­tiert. Dha­ramsala zog eine Menge armer Men­schen an, die sich erhoff­ten, von den Tou­ris­ten zu pro­fi­tie­ren. Bett­ler zerr­ten an mir und folg­ten mir län­gere Stre­cken, wäh­rend sie mir ihr Elend klag­ten. Mir fiel vor allem eines auf: Viele Frauen bet­tel­ten mit einem Säug­ling auf dem Arm und rie­fen schon von Wei­tem, dass sie kein Geld woll­ten, son­dern nur Milch­pul­ver für ihr Baby. Ersteht man jedoch das gewünschte Gut, so wird es umge­hend wie­der an den Shop zurück­ver­kauft. Ich will und kann das nicht bewer­ten, aber ein biss­chen ver­stört war ich alle­mal, als ich begriff, wel­che Masche dahin­ter­steckte. Vor allem, dass es sich in der Regel nicht um den eige­nen Säug­ling han­delt, son­dern dass viele Babys aus­ge­lie­hen wer­den, um Mit­leid zu erzeu­gen. Frei­lich schmä­lert das in kei­ner Weise die bestehende Armut.

Ansons­ten prä­sen­tierte sich der Ort als bun­ter Mix. Es gab unzäh­lige Läden, die wun­der­bare Klein­ode, aber auch furcht­ba­ren Kitsch im Ange­bot hat­ten. Dane­ben präg­ten ver­ein­zelte Tem­pel, Gast­häu­ser, Restau­rants, Yoga­schu­len, Mas­sa­ge­sa­lons und Tre­cking­agen­tu­ren den Ort. Die Ange­bote waren zumeist auf den spi­ri­tu­el­len Tou­ris­ten und die Ver­eh­rung des Dalai Lamas zuge­schnit­ten. Lei­der geht das in mei­nen Augen oft zu weit. Schon lange ist die grund­sätz­lich zu unter­stüt­zende »Free Tibet«-Kampagne zu einem ech­ten Kas­sen­schla­ger und einer eige­nen Marke mutiert. Und längst nicht alles Geld, das unter die­sem Slo­gan ver­kauft wird, kommt wirk­lich den Pro­jek­ten und Hilfs­an­ge­bo­ten der tibe­ti­schen Gemeinde zugute. Trotz allem ist Dha­ramsala ein Mikro­kos­mos, den es so auf der Welt sicher kein zwei­tes Mal gibt.

Ich besuchte das tibe­ti­sche Museum. Trotz allem was man zu wis­sen meint, ist es sehr bedrü­ckend zu erfah­ren, wie sys­te­ma­tisch die tibe­ti­sche Kul­tur im Zuge von Maos »Kul­tur­re­vo­lu­tion« zer­stört wurde. Ganze Klös­ter und Kult­stät­ten wur­den dem Erd­bo­den gleich gemacht, Akti­vis­ten für die tibe­ti­sche Sache gna­den­los ver­folgt, gefol­tert und ermor­det. Ich würde so gerne ein­mal Tibet berei­sen – doch ich fürchte, das heu­tige Bild würde mich sehr deprimieren.

In Dha­ramsala schien sich jeder im Yoga­fie­ber zu befin­den. Gerade das stieß mich ab. Wenn ich das Gefühl bekomme, nur Eso­te­ri­ker um mich herum zu haben, dann will ich selbst kei­ner mehr sein. Auch der Dalai Lama war in McLo­de­on­ganj, was auf­grund der vie­len Rei­sen »sei­ner Hei­lig­keit« nicht selbst­ver­ständ­lich ist. Es bestand die Mög­lich­keit, an sei­nen »tea­chings« teil­zu­neh­men. Ich ent­schied mich jedoch dage­gen. Mir ging ziem­lich auf die Ner­ven, dass fast alle Back­pa­cker und Tou­ris­ten von nichts ande­rem als Yoga und die­sen »tea­chings« spra­chen. Das erschien mir ober­fläch­lich. Ich per­sön­lich wusste noch immer viel zu wenig über den Bud­dhis­mus, um mich ernst­haft mit ihm aus­ein­an­der­zu­set­zen. Auch der Cha­rak­ter die­ser »tea­chings«, zu denen über tau­send Men­schen strö­men – die meis­ten davon Tou­ris­ten – stieß mir bit­ter auf. In mei­nen Augen muss das Ganze zu einer Show ver­kom­men, mochte der Dalai Lama noch so sehr er selbst sein. Ich hätte gerne ein­mal seine Aura ver­spürt, aber in die­sem Rah­men ver­zich­tete ich lie­ber dar­auf. Ein Mal sah ich, wie Tou­ris­ten und Mön­che eines die­ser »tea­chings« ver­lie­ßen. Wäh­rend die Tou­ris­ten tief in Gedan­ken ver­sun­ken waren, ver­lie­ßen die Mön­che lachend den Ort. Schein­bar ließ sich die Bot­schaft des Dalai Lama bes­ser mit dem Her­zen ver­ste­hen als mit dem Verstand.

Ver­steckt in den Gas­sen stieß ich hin­ge­gen auf klei­nere Klös­ter, die mehr Ursprüng­lich­keit aus­strahl­ten und mir ver­deut­li­chen, dass trotz allen Aus­ver­kaufs die Spi­ri­tua­li­tät vie­ler Mön­che und ihrer Unter­stüt­zer unge­bro­chen ist.

Um mit dem Städt­chen warm zu wer­den, war mir jedoch zu viel los und den Kom­merz um den Dalai Lama fand ich uner­träg­lich. So zog ich jeden Tag alleine los, um mei­nen Frie­den in den Ber­gen zu fin­den. Oft­mals brach ich unvor­be­rei­tet auf, mit dem vagen Ziel, den nächs­ten, vor mir auf­ra­gen­den Berg zu erklimmen.

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Als Ver­pfle­gung hatte ich nur ein paar Momos im Gepäck – gerös­tete oder gedüns­tete Teig­ta­schen, gefüllt mit Gemüse und gar­niert mit einer Chi­li­sauce. Häu­fig unter­schätzte ich die Auf­stiege. Manch­mal blieb mir nichts ande­res übrig, als mich am Gestrüpp nach oben zu zie­hen, wenn die Stei­gung zu groß wurde. Auf den Gip­feln traf ich häu­fig auf Schä­fer, die hier mit ihren Hun­den und Scha­fen weideten.

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Eine wei­tere Spe­zia­li­tät von mir wur­den Auf­stiege im Dunk­len, weil ich mich gerne überschätzte.

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So schön sol­che Bil­der sind, wer sie auf­nimmt und kein Zelt dane­ben­steht, macht ein­deu­tig etwas falsch…

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Noch gefähr­li­cher war, wenn ich eine leichte Ent­rü­ckung ver­spürte und unbe­küm­mert von einem Fel­sen zum ande­ren sprang, so als könne ich gar nicht abstür­zen. Ich bekam zwar mit der Zeit eine gewisse Sicher­heit, aber ich musste mir immer wie­der neu in Erin­ne­rung rufen, dass ein klei­ner Fehl­tritt schwer­wie­gende Fol­gen haben würde. Doch ich wagte mich immer wie­der hals­bre­che­ri­sche Wege hin­auf. Hier spürte ich mich.

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Sel­ten zuvor fühlte ich mich so eng mit der Natur ver­bun­den. Ich klet­terte bis zur Erschöp­fung und weit dar­über hin­aus. Manch­mal musste ich mich ganz auf mei­nen Tast­sinn ver­las­sen. Je weni­ger die Wege began­gen waren und je wei­ter ich mich abseits der Zivi­li­sa­tion begab, desto woh­ler fühlte ich mich. Das Natur­er­le­ben erdete mich und meine Sinne schärf­ten sich. Es tat mir aus­ge­spro­chen gut, so viel zu laufen.

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Es dau­erte jedoch immer einige Stun­den, bis der fort­wäh­rende Strom mei­ner Gedan­ken all­mäh­lich ver­stummte oder zumin­dest abnahm und an ihre Stelle eine sel­ten erlebte Klar­heit trat. Nun benö­tigte ich mei­nen Geist dazu, die Kon­zen­tra­tion auf­recht zu erhal­ten, um keine Feh­ler zu machen, die nahe am Abgrund zu fata­len Kon­se­quen­zen füh­ren konn­ten. Ich fühlte mich leben­dig wie sel­ten in mei­nem Leben. Die umge­ben­den Geräu­sche, ein vor­bei­zie­hen­der Vogel, die Berge um mich herum und der Pfad vor mei­nen Augen – das war alles was zählte. Im Hier und Jetzt zu sein, das gelang mir sonst nur sel­ten und ich genoss diese Momente in vol­len Zügen.

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Auf mei­nen Streif­zü­gen stieß ich auf klei­nere Dör­fer, die noch viel ursprüng­li­cher der tibe­ti­schen Kul­tur fol­gen und von Acker­wirt­schaft geprägt sind.

Doch Indien blieb mir wei­ter sehr fremd. Ich ver­misste Freunde und Fami­lie. Aus der Ferne erschien mir das Leben, das ich auf­ge­ge­ben hatte, oft ver­lo­ckend und ich hatte viele Ideen, was ich dort anders machen würde. Denn eigent­lich wünschte ich mir in die­sen Tagen nichts sehn­li­cher, als nach Hause zurück­zu­keh­ren. Doch auf­ge­ben kam nicht in Frage, sonst hätte ich mich nur als Ver­sa­ger gefühlt. Ich war schließ­lich auf­ge­bro­chen, um ein neues Kapi­tel auf­zu­schla­gen und ein ande­res hin­ter mir zu las­sen. Irgend­wann musste der der Fun­ken von der fried­li­chen Umge­bung auf mich überspringen!

Ich blieb ein Ein­zel­gän­ger. An die­sem Punkt war ich ambi­va­lent: Eigent­lich wünschte ich mir nichts sehn­li­cher, als end­lich auf Gleich­ge­sinnte zu tref­fen, mit denen ich Erleb­nisse und Rei­se­wege tei­len konnte; gleich­zei­tig war ich für Andere ver­schlos­sen und tat alles, um meine Ein­sam­keit zu manifestieren.

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Doch zwei Begeg­nun­gen beein­druck­ten mich tief. Zunächst traf ich in den Ber­gen einen jun­gen Tibe­ter, wir kamen ins Gespräch und teil­ten einen Teil des Weges. Wir unter­hiel­ten uns über die Zukunft des tibe­ti­schen Vol­kes und der Welt. Er betonte, wie ent­schei­dend es sei, Gutes zu tun, um eben­sol­ches zu erfah­ren. Karma. Sich selbst des­we­gen aber nicht als »gut« oder gar »bes­ser« anzu­se­hen, son­dern dar­über Andere ent­schei­den zu las­sen. Ehr­lich zu sein und nicht mit Fin­gern auf Andere zu zei­gen, son­dern sie direkt auf ihre Feh­ler anzu­spre­chen. So banal diese Weis­hei­ten wir­ken moch­ten, so gut tat es, sie so unschul­dig aus­ge­spro­chen zu hören, von jeman­dem, der offen­bar genau das lebte. Mein Beglei­ter hatte seine Hei­mat ver­las­sen müs­sen, meinte jedoch, es sei völ­lig nor­mal, mit dem Kör­per die Hei­mat zu ver­las­sen und trotz­dem über die Seele mit den Ahnen in Ver­bin­dung zu blei­ben. Seine Aus­ge­gli­chen­heit und seine Fröh­lich­keit haben mich umso mehr beein­druckt, da er nach dem Tod sei­ner Eltern sei­nen Weg alleine gehen musste und dies offen­bar vol­ler Würde tat, ohne Zorn und Verbitterung.

 

Pinku und Sidd­artha:

An einem ande­ren Tag wurde ich am Wal­des­rand von einem Sikh auf mein Athen-Shirt ange­spro­chen, das mir mein Bru­der zu mei­nem Geburts­tag geschenkt hatte. Ob ich wohl ein grie­chi­scher Phi­lo­soph sei? Jeden­falls nahm ich seine Ein­la­dung an, mit ihm in seine Tee­stube zu kom­men. Er hieß Pinku und wir rede­ten uns schnell in Fahrt. Wir spra­chen über seine und meine Welt und das hek­ti­sche Leben in der west­li­chen Welt. Bald erzählte ich ihm offen aus mei­nem Leben.

Wie üblich für einen Sikh trug Pinku einen lan­gen, in sei­nem Fall bereits ergrau­ten Bart, sein Alter konnte ich schwer schät­zen, er wirkte uralt und blut­jung zugleich. Auf­fäl­lig und ein­la­dend waren seine Augen – voll wacher Intel­li­genz, aber auch Wärme, als würde ein inne­res Feuer in ihm bren­nen. Er strahlte eine Güte aus, die ich sel­ten erlebt habe und die ihn jugend­lich erschei­nen ließ. Da ich das starke Gefühl emp­fand, ihm gren­zen­lo­ses Ver­trauen ent­ge­gen brin­gen zu kön­nen, erzählte ich ihm offen über die Trau­rig­keit in mei­nem Her­zen auf­grund der schreck­li­chen Dinge, die in der Welt pas­sie­ren. Ich schil­derte ihm meine Pro­bleme damit, immer über Gott und die Miss­stände der Welt zu grü­beln und daher nie zur Ruhe zu kom­men und kaum genie­ßen zu kön­nen. Ich erzählte ihm Teile mei­ner Lebens­ge­schichte und von mei­ner Suche nach Glück und Essenz, die mich nun zu ihm in die Tee­stube am Rande des Wal­des geführt hatte.

Pinku betonte, wie wich­tig es sei, mit dem Her­zen und nicht so sehr mit dem Ver­stand zu han­deln und auf die innere Stimme zu hören. Er meinte, das Heim­weh, das ich ver­spürte, hin­derte mich nur daran, meine Aus­zeit zu genie­ßen und glück­lich wie­der zurück zu kom­men, was die Daheim­ge­blie­be­nen viel glück­li­cher machen würde, als wenn ich erschöpft und trau­rig heim­käme. Sein Anlie­gen war mir zu ver­mit­teln, dass all die­ses Grü­beln kei­nen Sinn hätte, gleich­zei­tig ver­stand er, warum ich ein Buch über meine Erfah­run­gen schrei­ben wollte. Schließ­lich sollte das der Ver­ar­bei­tung die­nen und Andere errei­chen, die ähn­lich trost­lose Zei­ten durch­mach­ten. Er riet mir aber, mich nicht zu sehr von die­ser Arbeit bestim­men zu las­sen, son­dern mich immer wie­der auf posi­ti­vere Dinge zu fokus­sie­ren, um nicht meine innere Kraft zu verlieren.

Anschlie­ßend erzählte mir Pinku aus sei­nem Leben. Er stammte wie die meis­ten Sikhs aus dem Bun­destaat Pun­jab, war in begü­ter­ten Ver­hält­nis­sen auf­ge­wach­sen, hatte lange Jura stu­diert und schließ­lich als Anwalt gear­bei­tet. Spä­ter hatte er sich von der Welt abge­wandt und war Mönch gewor­den. Nach Jah­ren des inne­ren Rück­zugs war ihm die Liebe sei­nes Lebens begeg­net. So wandte er sich erneut der Welt zu, bis er seine Liebe vor einem Jahr ver­lo­ren hatte. Seit­dem lebte Pinku – wie er sich aus­drückte – in gro­ßer »Kon­fu­sion« und ver­su­che sich selbst wie­der zu fin­den. Mir war beson­ders sym­pa­thisch, dass er kein per­fek­ter Leh­rer war, wie der Dalai Lama oft erschien, son­dern ein Mensch mit Feh­lern, der sich die­ser bewusst war und sich nicht scheute, über sie zu spre­chen. Er erzählte mir, wie wenig er von den Ein­hei­mi­schen aner­kannt wird und das es unmög­lich für ihn sei, sich deren Respekt zu erwer­ben. Auch die hei­li­gen Män­ner ste­hen außer­halb des Kas­ten­sys­tems und ihre Wahr­neh­mung schwankt zwi­schen Bewun­de­rung und Verachtung.

Was mich sehr fas­zi­niert, aber auch erschreckte, war, als er erzählte, dass er seit über einem Jahr das Licht in sei­ner Hütte nicht mehr ange­macht hatte. Weil er nichts sehen wollte und die Dun­kel­heit um sich herum brauchte. Ich kannte sol­che Pha­sen gut, in sol­chen Zei­ten war es um den See­len­zu­stand nicht gut bestellt. Doch trotz aller offen­sicht­li­chen Wid­rig­kei­ten besaß Pinku diese Fröh­lich­keit, die­sen Schalk in sei­nen Augen und ein aus­ge­präg­tes Inter­esse an ande­ren Men­schen. Die Tee­stube ermög­lichte ihm eine äußerst beschei­dene Exis­tenz. Vol­ler Freude und neuer Kraft habe ich ihn an die­sem Abend verlassen.

 

Par­al­lel zu den Begeg­nun­gen mit ihm las ich Sid­dha­rtha. Das Buch offen­barte mir viele span­nende Aspekte. Auch ich musste wohl eines Tages ler­nen, auf­zu­hö­ren, die Welt auf­grund der Unge­rech­tig­keit in ihr zu ver­ach­ten, mir selbst und ande­ren zu ver­zei­hen und die Ambi­va­lenz der Welt als Ein­heit und weni­ger als Gegen­satz zu ver­ste­hen. Meine mora­li­schen Ansprü­che waren viel­leicht nicht falsch, aber wohl von kaum einem Men­schen zu erfül­len und auch ich schei­terte immer wie­der selbst an ihnen. Beson­ders ange­spro­chen hat mich, dass Sid­dha­rtha in der Erzäh­lung Bud­dha nicht nach­folgt (in Hes­ses Erzäh­lung sind Bud­dha und Sid­dha­rtha zwei ver­schie­dene Per­so­nen), obwohl er die­sen als hei­li­gen Mann wahr­nimmt, weil er spürt, dass er nur eigen­stän­dig Erleuch­tung finde. Er kann Bud­dhas Weis­heit nicht ein­fach über­neh­men. Nur die Wahr­heit, die Sid­dha­rtha in sich selbst ent­de­cken konnte, erschien ihm wert­voll, leben­dig und wirk­sam. Das ent­sprach sehr stark mei­nen eige­nen Vor­stel­lun­gen, mei­nen eige­nen Weg jen­seits von vor­ge­fer­tig­ten Glau­bens- und Moral­vor­stel­lun­gen zu fin­den. Mit Hesse teile ich auch das „Schick­sal“ des Pfar­rer­kin­des. Die Über­win­dung des Leids als Weg der Erleuch­tung konnte viel­leicht auch mei­nem Leben einen ganz ande­ren Sinn ver­lei­hen. Ande­rer­seits war das viel­leicht genau die Bürde, die ich über­win­den musste. Schließ­lich ver­suchte auch ich, das Kreuz der Welt zu tra­gen und konnte nicht anders, als daran zu zer­bre­chen und zu schei­tern. Span­nend war für mich, wie es Sid­dha­rtha trotz mas­si­ver Rück­schläge gelingt, im Ver­lauf der Erzäh­lung seine Per­spek­tive auf die Welt zu verändern:

 

„Das Ich war es, von dem ich los­kom­men, das ich über­win­den wollte. Ich konnte es aber nicht über­win­den, konnte es nur täu­schen, konnte nur von ihm flie­hen, mich nur vor ihm ver­ste­cken. Wahr­lich, kein Ding in der Welt hat so viel meine Gedan­ken beschäf­tigt wie die­ses meine Ich, dies Rät­sel, dass ich lebe, dass ich einer und von allen ande­ren getrennt und abge­son­dert bin…“

 

Am Ende der Erzäh­lung erlebt sich Sid­dha­rtha dann als Teil eines gro­ßen Gan­zen, das uns alle aus­macht und fühlt sich nicht mehr getrennt von den ande­ren Men­schen und der ihn umge­ben­den Natur. Alles ist beseelt von dem­sel­ben Fun­ken, der nichts ande­res ist als augen­blick­li­che Existenz.

 

„… lang­sam blühte, lang­sam reifte in Sid­dha­rtha die Erkennt­nis, das Wis­sen darum, was eigent­lich Weis­heit sei, was sei­nes lan­gen Suchens Ziel sei. Es war nichts als eine Bereit­schaft der Seele, eine Fähig­keit, eine geheime Kunst, jeden Augen­blick, mit­ten im Leben, den Gedan­ken der Ein­heit den­ken, die Ein­heit füh­len und ein­at­men zu kön­nen. Lang­sam blühte das in ihm auf, strahlte ihm aus Vasu­de­vas altem Kin­der­ge­sicht wider: Har­mo­nie, Wis­sen um die ewige Voll­kom­men­heit der Welt, Lächeln, Einheit.“

 

Her­mann Hesse, Sid­dha­rtha.

 

Dies war die Essenz, mei­nen Weg musste ich jedoch ähn­lich wie Sid­dha­rtha selbst ent­de­cken. Erlebt hatte ich die­sen Zustand schon einige Male, in der Regel jedoch mit­hilfe psy­cho­ak­ti­ver Sub­stan­zen. Den­noch wusste ich, dass es auch für mich einen Weg geben musste; doch ich musste einen orga­ni­schen Pfad fin­den, ihn zu beschrei­ten. Nur dann würde ich in der Lage sein, dau­er­haf­ten Frie­den zu erlangen.

Am letz­ten Tag wollte ich mich von Pinku ver­ab­schie­den, aber lei­der war sein Shop geschlos­sen. Ich habe ihm einen Schwarz­wäl­der Kirsch­ku­chen mit einer per­sön­li­chen Nach­richt hin­ter­las­sen und dem Zusatz: „sugar for the whole month.“ Sollte ich noch­mal nach Dha­ramsala kom­men, werde ich nah ihm suchen. Ich hatte den Ein­druck, dass er mich noch viel hätte leh­ren können.

 

Wer erfah­ren will, was hin­ter mir lag, als ich Dha­ramsala erreichte, erfährt das in der Rei­se­de­pe­sche „Gefan­ge­ner des Haus­boots – Lost in Para­dise“

Cate­go­riesIndien
  1. Rainer Posingis says:

    Also nur kurz: Es macht mich ent­setz­lich trau­rig, wenn ich Rei­se­be­richte aus dem Hima­laya lese. Ich bin 1979 im Hima­laya gewe­sen: von West nach Ost, Kasch­mir, Manali, Himachal Pra­desh, Dha­ramsala, Pokhara…Die Luft war so rein und klar. Der Hima­laya war frei von Tou­ris­ten und wenn ich gewußt hätte, daß wir Freaks u Hip­pies die Tore öff­ne­ten für all die,die fol­gen wür­den, ich hätte dar­auf verzichtet…So schade, so schade…

  2. Pingback:Dharamsala - Giller Magazin

  3. Isa says:

    Wun­der­voll. Ich habe sel­ten einen Bericht gele­sen, der mich so tief bewegt hat wie dei­ner. Die Sehn­sucht nach Freun­den und Fami­lie, aber gleich­zei­tig der Wille, nicht auf­zu­ge­ben – Ein­zel­gän­ger­tum und der Wunsch, auf Gleich­ge­sinnte zu treffen…das sind Dinge, die mir so ver­traut sind. Ich finde, wenn man es durch­zieht, fühlt man sich am ende ein­fach groß­ar­tig, weil man etwas erlebt hat, was man so wahr­schei­nich nie wie­der tun wird. Nach mei­ner Reise als Back­pa­cke­rin durch Thai­land ging meine nächste Reise erst mal wie­der ganz gesit­tet ins Hotel Brixen. ;)

    1. Liebe Isa! Danke für Deine tolle Rück­mel­dung; schön, dass Du DIch in Tei­len mei­nes Berichts wie­der­erkennst. Ich habe diese Ambi­va­lenz auf all mei­nen Rei­sen erlebt und auch mir ging es so, dass ich nach lan­gen Pha­sen der Ein­sam­keit glück­lich war, diese Erfah­run­gen gemacht zu haben und habe es gegen Ende mei­ner Rei­sen genos­sen, mich mit Ande­ren Rei­sen­den, denen es ähn­lich erging, aus­zu­tau­schen. Nur eines ist bei mir ganz anders: ich möchte oder muss diese Erfah­run­gen immer wie­der machen, mich zieht es immer wei­ter weg von den aus­ge­tre­te­nen Pfa­den. Ich kann aller­dings gut nach­voll­zie­hen, dass es irgend­wann genug ist mit dem (oft) ein­sa­men Her­um­zie­hen. Ich scheine das (noch) zu brau­chen, bis ich den Ort finde, an dem ich mich nie­der­las­sen will. Trotz­dem glaube ich nicht, dass ich jemals auf­hö­ren werde, zu rei­sen. Ganz liebe Grüße! Oleander

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