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Das konservative Ghom und der radikale Klerus

Wir ver­las­sen Tehe­ran mit der Metro. Je wei­ter wir uns vom Stadt­zen­trum ent­fer­nen, desto schwä­cher neh­men wir den atmo­sphä­ri­schen Herz­schlag der ira­ni­schen Haupt­stadt wahr. Das Chaos, die Luft­ver­schmut­zung, die Men­schen­mas­sen ver­blas­sen all­mäh­lich, bis wir die Stadt­grenze über­que­ren. An der End­sta­tion ange­kom­men, ist es bei­nahe still. Nur das mono­tone Rau­schen einer ent­fern­ten Schnell­straße dringt an unsere Ohren. Wir befin­den uns zehn Kilo­me­ter süd­lich von Tehe­ran vor einem rie­si­gen Park­platz. Sol­da­ten lau­fen über die Geh­wege, im Hin­ter­grund erhe­ben sich Bau­kräne über einer enor­men gol­de­nen Kup­pel, ira­ni­sche Flag­gen wehen unter einem strah­lend blauen Him­mel. Vor uns erstreckt sich das Gelände des Khomeini-Mausoleums.

Das Grab­mo­nu­ment aus dem Jahr 1989 beher­bergt die Über­reste von Aja­tol­lah Ruhol­lah Kho­meini, dem Grün­der der isla­mi­schen Repu­blik Iran. Sie lie­gen unter einer gol­de­nen, 68 Meter auf­ra­gen­den Kup­pel, deren Höhe auf das Todes­jahr des Aja­tol­lah im isla­mi­schen Kalen­der, 1368, ver­weist. Vier frei­ste­hende Mina­rette ragen 91 Meter empor. Einer Moschee gleich, ist das Mau­so­leum sowohl letzte Ruhe­stätte des Ver­stor­be­nen, als auch hei­li­ger Pil­ger­ort der ira­ni­schen Schii­ten. Hier mani­fes­tiert sich der Per­so­nen­kult um den ehe­mals cha­ris­ma­ti­schen Kle­ri­ker. Es heißt, dass zehn Mil­lio­nen Trau­er­gäste sei­ner Bei­set­zung beiwohnten.

Kho­meini selbst, ernst und rück­sichts­los, wird in beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen gebo­ren. Zu Leb­zei­ten ist er der reli­giöse und spi­ri­tu­elle Füh­rer der isla­mi­schen Revo­lu­tion – das Gesicht des Wider­stands gegen den Mon­ar­chen Schah Moham­mad Reza Pahl­avi und gegen den Impe­ria­lis­mus der USA. Doch die Oppo­si­tion, die Ende der 1970er mit Mas­sen­pro­tes­ten und Demons­tra­tio­nen gegen die auto­ri­täre und abso­lu­tis­ti­sche Herr­schaft des ira­ni­schen Königs auf­be­gehrt, sieht sich mit Kho­meini letzt­end­lich einem Dik­ta­tor aus ihren eige­nen Rei­hen kon­fron­tiert. Der Aja­tol­lah sym­bo­li­siert den kon­ser­va­ti­ven Reli­gi­ons­fun­da­men­ta­lis­mus. Er ruft die Scha­ria, die isla­mi­sche Recht­spre­chung, aus und ist gna­den­los zu sei­nen frü­he­ren Weg­be­glei­tern und jet­zi­gen Geg­nern. Unter sei­ner Füh­rung wird das hei­rats­fä­hige Alter von Mäd­chen im Iran auf neun Jahre zurück­ge­stuft. Noch im Jahr sei­nes Todes, 1989, ruft er unter dem Vor­wurf der Got­tes­läs­te­rung, zur Ermor­dung des indi­schen Schrift­stel­lers Sal­man Rush­die auf.

Khomeini und die islamische Revolution

Kohmeini, iranische Revolution

Der Wes­ten gibt sich kaum Mühe Kho­meini zu ver­ste­hen; er gilt schlicht als reli­giös-radi­ka­ler Reak­tio­när. Im Iran wird sein cha­ris­ma­ti­sches Wesen hin­ge­gen ver­ehrt. Für Kho­meini und die isla­mi­sche Repu­blik kämp­fen tau­sende Frei­wil­lige im Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988 und ster­ben den Mär­ty­rer­tod. Der Aja­tol­lah gilt wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung als Ver­tei­di­ger der Unter­drück­ten und Ent­rech­te­ten, als Sinn­bild einer sozia­len Revo­lu­tion, die sich gegen die Unge­rech­tig­keit und Will­kür der auto­ri­tä­ren Mon­ar­chie stellt. Kho­meini ver­kör­pert dar­über hin­aus eine natio­nale Unab­hän­gig­keit, die sich nicht von äuße­ren Mäch­ten len­ken lässt. Eine Eigen­schaft, mit der er sich stark vom frü­he­ren König unter­schei­det und die beson­ders den USA ein Dorn im Auge ist. Kho­meini ist ein zwei­schnei­di­ges Schwert. Er polarisiert.

Wir nähern uns dem Mau­so­leum. Auf dem Park­platz, groß genug für ein Mes­se­ge­lände oder einen gemein­schaft­li­chen Warn­streik von VERDI und Cock­pit, füh­len wir uns bereits wie Ein­dring­linge. Für uns Nicht­gläu­bige ist der Ort viel zu auf­ge­bla­sen. Vor uns erhebt sich die Grab­stätte mit ihren Neben­ge­bäu­den, Kup­peln, Mina­ret­ten, Pil­ger­un­ter­künf­ten, Biblio­the­ken, Restau­rants und medi­zi­ni­schen Ver­sor­gungs­stel­len und nimmt dabei die Flä­che von 21 Fuß­ball­fel­dern ein. Das Grab­mal ist nicht nur letzte Ruhe­stätte des ehe­ma­li­gen Staats­ober­haup­tes, son­dern auch Kon­serve für des­sen Ideen, Gedan­ken und Betrach­tun­gen. Hier wer­den Ideale und Welt­an­schau­un­gen der Ver­gan­gen­heit hoch gehal­ten und die Idee der isla­mi­schen Revo­lu­tion bis in die Gegen­wart mani­fes­tiert. Hin­ter ver­gol­de­ten Mau­ern fehlt die Frei­heit, sie wei­ter zu ent­wi­ckeln. Kho­mei­nis Ideo­lo­gie steckt fest im Schraub­stock der Unver­än­der­bar­keit. Das Grab­mal ist der letzte Aus­druck eines Per­so­nen­kults um den ver­stor­be­nen Füh­rer, ein Sym­bol der isla­mi­schen Revo­lu­tion von 1979. Solange Kho­meini im Iran wie ein Hei­li­ger ver­ehrt wird, solange blüht auch sein Ent­wurf eines kon­ser­va­ti­ven Islams im Land.

Wir mar­schie­ren mit unse­rem Gepäck stau­nend an dem nicht enden wol­len­den Mau­er­werk vor­bei. Extra­va­gant ist nicht genug, um die über­trie­be­nen Aus­maße des Mau­so­le­ums zu beschrei­ben. Dabei wol­len wir gar nicht hier her. Allein die nach Süden füh­rende Schnell­straße hin­ter dem Grab­mal ist unser Ziel. Auf ihr gelan­gen wir von Tehe­ran zu unse­rer nächs­ten Sta­tion Ghom.

Ghom, Iran

An der Schnell­straße hal­ten wir an einer nahen Maut­sta­tion. Hier posi­tio­nie­ren wir uns vor dem Gegen­ver­kehr, der hin­ter der Gebüh­ren­stelle lang­sam an uns vor­bei rollt. Wir sind gut sicht­bar und es dau­ert nur ein paar Minu­ten, da stei­gen wir in einen wei­ßen Klein­wa­gen. Der Fah­rer Sadegh hat das glei­che Ziel und gemein­sam steu­ern wir Ghom ent­ge­gen. Es sind nur etwa 140 Kilo­me­ter, die wir in süd­li­cher Rich­tung unter­wegs sind. Nicht ein­mal zwei Stun­den wer­den wir benö­ti­gen. Wäh­rend wir über die mehr­spu­rige, gut aus­ge­baute Schnell­straße dahin­glei­ten, spre­chen wir mit Sadegh über die Nach­wir­kun­gen der isla­mi­schen Revo­lu­tion und Kho­meini als ihre schil­lernde Figur. Für Sadegh sind der Ent­wurf einer isla­mi­schen Repu­blik und die Ideen des Aja­tol­lah kei­nes­falls so reiz­bar, wie für den Wes­ten. Zwar sei etwa die Aus­le­gung der Scha­ria sehr hart, gibt Sadegh zu beden­ken, aber wer ein recht­schaf­fen­des Leben führe, habe auch nichts zu befürch­ten. Alles in allem, so schluss­fol­gert er, habe Kho­meini viel für das Land geleis­tet. Dass er sich nach Jah­ren der Abhän­gig­keit gegen den Impe­ria­lis­mus des Wes­tens wehrte, habe viele Ira­ner mit Stolz erfüllt. Als wir uns nach demo­kra­ti­schen Grund­wer­ten wie Presse- und Rede­frei­heit erkun­di­gen, zuckt Sadegh nur mit den Schul­tern, so als wolle er sagen, dass Opfer gebracht wer­den müssten.

So wie Sadegh reagie­ren viele Ira­ner mit einer schein­bar gerin­gen demo­kra­ti­schen Vor­stel­lungs­kraft. Seit Jahr­zehn­ten wird das Land von har­ter Hand regiert. Schon vor Kho­meini herrscht Schah Moham­mad Reza Pahl­avi mit Will­kür und Gewalt über den Iran. Eine freie Demo­kra­tie haben die meis­ten Ira­ner nie erlebt. Dem­entspre­chend wird, natür­lich nur hin­ter ver­schlos­se­nen Türen, viel über das Kopf­tuch, Alko­hol­ver­bot und andere staat­li­che Repres­sa­lien dis­ku­tiert. Erstaun­lich sel­ten spricht man dabei aber von demo­kra­ti­schen Grund­wer­ten und Men­schen­rech­ten. Die Beschnei­dung ele­men­ta­rer gesell­schaft­li­cher Frei­hei­ten, etwa Presse- oder Rede­frei­heit, emp­fin­den viele Ira­ner, mit denen wir ins Gespräch kom­men, als weit gerin­ge­res Pro­blem als die per­sön­li­chen Ein­schrän­kun­gen durch Klei­dungs- und Verhaltensvorschriften.

 Khomeini, iranische Revolution

Am frü­hen Nach­mit­tag errei­chen wir Ghom, eine von sie­ben hei­li­gen Städ­ten der schii­ti­schen Mus­lime. Am Ein­gang der Stadt, dort wo an einem gro­ßen Kreis­ver­kehr die Haupt­stra­ßen in ver­schie­dene Nach­bar­schaf­ten und Vier­tel füh­ren und schnurr­bär­tige Taxi­fah­rer auf Kun­den war­ten, stei­gen wir aus. Hier sind wir mit unse­rer Gast­ge­be­rin Maryam ver­ab­re­det. Ihre Fami­lie wird uns für die nächs­ten Tage auf­neh­men. Doch noch fehlt von Maryam jede Spur. Statt­des­sen betrach­ten wir die gleich­mä­ßig dahin­flie­ßende Fahr­zeug­ko­lonne, die sich, in dunkle Abgase gehüllt, in meh­re­ren Spu­ren um die Ver­kehrs­in­sel win­det. Ab und an bie­ten die beschäf­ti­gungs­lo­sen Taxi­fah­rer ihre Dienste an.

Dann drän­gelt sich ein Auto in den Kreis­ver­kehr; eine ver­beulte, rost­zer­fres­sene Schüs­sel, die ihren Extrabei­trag zur Luft­ver­schmut­zung in dicken schwar­zen Wol­ken hin­ter sich her zieht. Klap­pernd schiebt sich der Schrott­hau­fen im Ein­heits­brei der wei­ßen PKWs nach vorne, über­holt links und rechts und wo kein Platz ist, for­dert er mit qua­ken­der Hupe einen freien Weg. Als uns die Fah­re­rin erblickt, lässt sie für einen kur­zen Moment das Lenk­rad los, um uns freu­dig mit bei­den Hän­den zu win­ken. Anschlie­ßend zieht sie ohne den Blin­ker zu set­zen auf die äußerste Spur und bleibt mit einer Voll­brem­sung halb auf der Fahr­bahn, halb im Taxi­stand ste­hen. Maryam ist da!

Ihre Begrü­ßung ist ebenso chao­tisch wie ihr Fahr­stil. Da wir sowohl eine Spur des Kreis­ver­kehrs als auch die Ein­fahrt zum Taxi­stand ver­sper­ren, bleibt uns wenig Zeit unser Gepäck im Kof­fer­raum zu ver­stauen. Dann sit­zen wir auch schon auf der Rück­bank und kugeln wäh­rend der rasan­ten Fahrt durch die Stadt von einer Ecke in die andere. Anschnall­gurte suchen wir ver­ge­bens, diese befin­den sich nur an den Vor­der­sit­zen. Zwar wäre auch neben Maryam Platz, aber die Bei­fah­rer­tür lässt sich in der ver­bo­ge­nen Karos­se­rie nicht öffnen.

Ghom, Iran

Wäh­rend der Fahrt redet Maryam von vorne unun­ter­bro­chen auf uns ein. Es stört sie nicht, ihre Auf­merk­sam­keit sekun­den­lang von der Straße auf die Rück­bank zu ver­la­gern und sich dabei voll­stän­dig zu uns umzu­dre­hen. Maryam, das mer­ken wir schnell, ist aus­ge­spro­chen lie­bens­wür­dig und augen­schein­lich verrückt.

Uner­war­tet unbe­scha­det errei­chen wir das Zuhause der jun­gen Frau; ein mehr­stö­cki­ges Wohn­haus in einer stau­bi­gen Sei­ten­gasse. Dort, im gro­ßen Wohn­zim­mer der ers­ten Etage, erwar­ten uns bereits Maryams Mut­ter Zahra und ihre Schwes­tern Nafise, Amene und Safiye, die gerade ihre Unge­bun­den­heit in den Semes­ter­fe­rien genie­ßen. Alle fünf Frauen tra­gen auch inner­halb der geräu­mi­gen Drei­zim­mer­woh­nung den isla­mi­schen Hid­schab, was natür­lich an unse­rer Anwe­sen­heit liegt. Unter den per­fekt gebun­de­nen Kopf­tü­chern lugt nicht ein ein­zi­ges Haar hervor.

Zahra hat sogar ihren Tscha­dor, ein lan­ges Tuch, das sie um Kopf und Kör­per wickelt, ange­legt. Ihre Reli­gion gebie­tet es, sich vor frem­den Män­nern bedeckt zu zei­gen. Zum ers­ten Mal im Iran erle­ben wir Gast­ge­ber, die es mit der Reli­gion ziem­lich genau neh­men. So dau­ert es auch nur wenige Augen­bli­cke, bis wir nach unse­rer Mei­nung zum Islam befragt wer­den. Ein Thema, das uns zunächst etwas unbe­hag­lich ist: Wir wol­len uns weder bloß­stel­len, noch reli­giöse Gefühle ver­let­zen und ant­wor­ten schüch­tern und ein­sil­big. Über uns hängt ein Tep­pich­bild an der Wand, das einen euro­pä­isch anmu­ten­den Bir­ken­wald zeigt. Es ist eines die­ser kit­schi­gen, aus tau­sen­den Kno­ten bestehen­den Bild­nisse, die uns bereits auf den Märk­ten in Täbris und Tehe­ran auf­fie­len. Ein ande­res Bild zeigt Ali, den, nach schii­ti­schem Glau­ben, legi­ti­men Nach­fol­ger des Pro­phe­ten Moham­med. Wir ver­su­chen diplo­ma­ti­sche Ant­wor­ten zum Islam zu fin­den und stel­len erleich­tert fest, dass unsere reli­giöse Befan­gen­heit für unsere Gast­ge­ber kein Pro­blem ist. Den­noch füh­len wir uns deut­lich woh­ler, als wir zu weni­ger kon­tro­ver­sen The­men wechseln.

Couchsurfing in Ghom

Wäh­rend wir mit Maryam und ihren Schwes­tern auf der Couch sit­zen, ser­viert uns Zahra mit einem war­men Lächeln ihr selbst­ge­mach­tes Halva. Die Zucker­masse, eine kleb­rig-süße ira­ni­sche Köst­lich­keit, ist nur die erste von vie­len Lecke­reien, die wir in den nächs­ten Tagen in Zahras Haus pro­bie­ren wer­den. Jedes Mal, wenn uns die Frauen mit einer neuen Deli­ka­tesse, einer neuen Lecke­rei bewir­ten, sind sie genauso auf­ge­regt wie wir. Solange wir essen, beob­ach­ten sie uns erwar­tungs­voll und kos­ten selbst nichts. Erst wenn wir alles ver­putzt und unsere dank­bare Zufrie­den­heit aus­ge­drückt haben, löst sich ihre Anspan­nung und wohl­wol­lend lächeln sie ein­an­der an.

Mit vol­lem Mund machen wir es uns auf den brei­ten, wei­chen Pols­ter­mö­beln gemüt­lich. Wäh­rend wir in der wohl geheiz­ten Woh­nung die win­ter­li­che Kälte der Außen­welt ver­ges­sen, wir­belt Maryam wort- und ges­ten­reich um uns herum. Sie bringt Tee und Ghand, lockere Zucker­bro­cken, Äpfel und kleine Mes­ser zum Zer­tei­len der Früchte. Dabei spru­delt es in einem fort aus ihr her­aus: Wie froh sie ist uns ken­nen­zu­ler­nen. Wie sehr sie unsere Reise begeis­tert. Wie es uns bis­her im Iran ergan­gen sei.

Beson­de­res Inter­esse hat die junge Frau an die­sem komi­schen Tram­pen, von dem wir immer wie­der erzäh­len und von dem sie sich gar keine Vor­stel­lung machen kann. Das Kon­zept des Tram­pens ist im Iran tat­säch­lich völ­lig unbe­kannt. Am Stra­ßen­rand enden unsere umständ­li­chen Erklä­rungs­ver­su­che, dass wir ohne Bezah­lung in einem Auto mit­ge­nom­men wer­den möch­ten, immer wie­der in ungläu­bi­gem Kopf­schüt­teln. Ben­zin ist im ölrei­chen Iran so bil­lig, dass nie­mand auf die Idee kommt, nicht für einen Trans­port zu bezah­len. Selbst Trink­was­ser ist teu­rer. Viele Ira­ner hal­ten uns des­halb für arm und mit­tel­los. Immer wie­der müs­sen wir gut­mü­tige Hel­fer beharr­lich davon über­zeu­gen, dass wir keine finan­zi­el­len Pro­bleme haben und auch nicht bereit sind Geld anzu­neh­men. Trotz­dem bli­cken wir immer wie­der in ent­setzte Gesich­ter. Hin­ter den irri­tier­ten Mie­nen schei­nen ganze Welt­bil­der zusam­men­zu­bre­chen. Einige Ira­ner über­le­gen ernst­haft unse­ret­we­gen die Poli­zei zu rufen.

In die­sem Unver­ständ­nis ist es ein klei­ner Trick, der uns den­noch die Her­zen der Ira­ner und die Türen ihrer Autos öff­net. Wir ver­bie­gen die Wahr­heit; nur ein win­zi­ges Biss­chen. Anstatt direkt nach einer Mit­fahr­ge­le­gen­heit zu fra­gen, behaup­ten wir, dass wir grund­sätz­lich zu Fuß unter­wegs seien. Ledig­lich wenn uns ein Fah­rer Hilfe anböte, stie­gen wir in ein Fahr­zeug. Dabei ist Hilfe das Zau­ber­wort, das die Augen der meis­ten Ira­ner leuch­ten lässt. Gäs­ten Hilfe anbie­ten? – Ira­ner ken­nen keine bes­sere Freizeitbeschäftigung.

 Khomeini, iranische Revolution

Maryam klatscht begeis­tert in die Hände. Die­ser Trick hätte auch bei ihr funk­tio­niert, gibt sie fröh­lich lachend zu. Über­haupt lacht die junge Frau sehr viel, steckt vol­ler Ener­gie, vol­ler Lebens­freude. Allein ihr zuzu­se­hen erhei­tert bereits das Gemüt. Maryam, Anfang drei­ßig, ist noch immer ein Kinds­kopf. Wäh­rend gleich­alt­rige Frauen bereits ver­hei­ra­tet sind und Kin­der bekom­men, läuft sie um die Wette, klet­tert auf Mau­ern, springt über Grä­ben und ver­hält sich über­haupt ganz unkon­ven­tio­nell. Dabei wirkt sie in allem was sie macht sehr selbst­be­wusst. Den­noch: Es ist schwer sich Maryam seriös vor­zu­stel­len. Im kom­men­den Semes­ter wird sie ihr Jura­stu­dium abschlie­ßen, aber ich glaube, dass sie viel lie­ber Pira­tin oder For­sche­rin oder Astro­nau­tin wäre; irgend­ein Beruf jeden­falls, bei dem sie immer neue Sphä­ren ent­de­cken könnte.

Abends, wenn die Sonne unter­ge­gan­gen ist und Ghom in eisi­ger Nacht zu schla­fen beginnt, ver­brin­gen wir viel Zeit zusam­men im Wohn­zim­mer. Wäh­rend wir von unse­ren Rei­sen berich­ten, fun­keln Maryams Augen über ihrer spit­zen Nase und wenn sie aus ihrem Leben erzählt, dann vor allem von ihren Erkun­dun­gen und aben­teu­er­li­chen Erleb­nis­sen, die ihr tag­täg­lich wider­fah­ren. Hei­ßer Chai und leckere, kalo­rien­rei­che ira­ni­sche Süßig­kei­ten wer­den uns unauf­hör­lich von unse­ren Gast­ge­bern ange­bo­ten. Aus der obe­ren Etage des Wohn­hau­ses besucht uns immer wie­der Hadi, Zahras ältes­ter Sohn, mit sei­ner Frau Atefe und sei­nem vier­jäh­ri­gen Sohn Amir Moham­mad. Wie so oft im Iran, lebt auch hier die Fami­lie über meh­rere Gene­ra­tio­nen zusam­men. Zahras Wohn­zim­mer im ers­ten Stock ist der Fix­punkt des Hau­ses. Hier tref­fen sich all seine Bewoh­ner – sowohl Hadi aus der obers­ten Etage, als auch Maryam und ihre Schwes­tern aus der Woh­nung im Erd­ge­schoß, sind stän­dig hier.

Hadi ist ein freund­li­cher jun­ger Mann in den 30ern und über­aus kon­ser­va­tiv. Unsere Geschichte nimmt er ohne Regung auf. Per Anhal­ter zu rei­sen hält er für etwas ziem­lich Gefähr­li­ches und Dum­mes. Er spricht es nicht aus, aber in sei­nem Gesicht lese ich deut­lich, dass wir ihm nicht geheuer sind.

Seine Frau Atefe ist blass und mager. Sie wirkt kraft­los und kränk­lich, hus­tet laut mit offe­nem Mund. Sie spricht wenig und wenn, dann ruft sie vor allem den Namen ihres Soh­nes: Amir Moham­mad! Amir Moham­maaad!! Amir MOHAAMAAAAD!!! Amir Moham­mad ist genauso blass, mager und kränk­lich wie seine Mut­ter. Auch er hus­tet am liebs­ten mit offe­nem Mund.

Ghom, Iran

Doch wir wer­den noch viel mehr Ver­wandte ken­nen­ler­nen. Da sind Onkel und Tan­ten, Groß­on­kel und Groß­tan­ten, Cou­sins und Cou­si­nen. Fast zwei Dut­zend Per­so­nen müs­sen wir im Gedächt­nis behal­ten: Bei allen sind wir zum Essen ein­ge­la­den. Ghom wird zur Stol­per­falle für unse­ren Hüft­speck. Es sind so viele Ein­la­dun­gen, dass wir einen Plan anfer­ti­gen müs­sen, wann wir wo sein wer­den und trotz­dem haben wir Schwie­rig­kei­ten alle Fami­li­en­mit­glie­der unter einen Hut zu bekom­men. Aus­schla­gen kön­nen wir keine Ein­la­dung. Jeder möchte uns ein­mal bei sich zuhause bewir­ten dür­fen. Wir wer­den Kilo­weise Kebab, Reis und Gemüse essen. Die schrägste Ver­ab­re­dung haben wir bei einer älte­ren Cou­sine. Da wir kei­nen ande­ren Ter­min mehr fin­den kön­nen, sind wir bei ihr um Mit­ter­nacht zu Safran­eis und Tee bestellt.

Maryams gesamte Fami­lie ist tief reli­giös und intel­lek­tu­ell geprägt. Män­ner und Frauen haben stu­diert. Seit Gene­ra­tio­nen gehö­ren Mul­lahs, isla­mi­sche Reli­gi­ons­ge­lehrte, zur engen Ver­wandt­schaft. Maryams Opa lehrte bereits als Mul­lah an der Hawza, einer isla­mi­schen Uni­ver­si­tät, im ira­ki­schen Nad­schaf. Ebenso ihr ältes­ter Onkel Moham­med Mahdi. Beide tru­gen den reli­giö­sen Titel Aja­tol­lah, die wich­tigste Ehrung der Schii­ten. Einige ihrer Tan­ten sind mit Mul­lahs ver­hei­ra­tet. Auch Maryams Vater ist ein Mul­lah und unter­rich­tet an der Hawza in Ghom. Momen­tan weilt er jedoch auf einem Kon­gress im Irak. Dort haben viele Ver­wandte über Jahre hin­weg gelebt. Hier fes­tigt sich ein umfas­sen­des Gespür für die Reli­gion, das an die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben wird. Ara­bisch, die Spra­che des Korans, wird zur Familiensprache.

Vor allem im ira­ki­schen Nad­schaf gaben sich die Söhne der Fami­lie reli­giö­sen Stu­dien hin. Es ist die hei­ligste Stadt der Schii­ten. Sie beher­bergt das Grab­mal des Imam Ali. Nach schii­ti­schem Glau­ben ist er der legi­time erste Nach­fol­ger des Pro­phe­ten Moham­med. An sei­ner Per­son spal­tet sich die isla­mi­sche Glau­bens­ge­mein­schaft bereits kurz nach dem Tod des Pro­phe­ten im sieb­ten Jahr­hun­dert. Aus der Ein­heit der mus­li­mi­schen Brü­der und Schwes­tern füh­ren nun zwei Pfade: die Sun­ni­ten, die Ali nicht als Nach­fol­ger aner­ken­nen und denen heute etwa 85 Pro­zent aller Mus­lime ange­hö­ren, und die Schii­ten, die ledig­lich im Iran, Irak, Aser­bai­dschan und Bah­rain die Mehr­heit der mus­li­mi­schen Bevöl­ke­rung stellen.

Ghom, Iran

Ghom, Iran

Dass Maryams Fami­lie nun zusam­men in Ghom lebt, ist eben­falls kein Zufall. In den theo­lo­gi­schen Hoch­schu­len der Stadt wer­den die meis­ten ira­ni­schen Kle­ri­ker aus­ge­bil­det. Aus allen Ecken des Iran kom­men Stu­den­ten, um hier zu ler­nen. Ghom ist kon­ser­va­tiv und reli­giös bedeut­sam. Nach Maschhad, wo sich die Grab­stätte des Imam Reza befin­det, gilt Ghom als der zweit­hei­ligste Wall­fahrts­ort des Landes.

Hier stu­dierte bereits Ruhol­lah Kho­meini, der spä­tere Füh­rer der isla­mi­schen Revo­lu­tion, Theo­lo­gie, Phi­lo­so­phie und Jura. Hier wird er zum Aja­tol­lah ernannt. Nicht zuletzt des­halb steigt Ghoms Bedeu­tung nach der Macht­über­nahme der Kle­ri­ker erheb­lich an.

Kho­meini, bereits wäh­rend des Stu­di­ums ein cha­ris­ma­ti­scher Kerl, erar­bei­tet sich schnell einen Ruf als her­vor­ra­gen­der Kle­ri­ker. Er gilt als ernst und gewis­sen­haft, schreibt Bücher, lehrt Theo­lo­gie und zeich­net sich durch einen kon­se­quen­ten kri­ti­schen Blick auf den ira­ni­schen König aus, des­sen Refor­men viel zu modern für die tra­di­tio­nell geprägte Phan­ta­sie des Aja­tol­lahs sind. Doch es sind auch die mon­ar­chi­sche Deka­denz und die Abhän­gig­keit und der damit ver­bun­dene blinde Gehor­sam zu den USA, die Kho­meini angreift. Als der ira­ni­sche König sich ent­schließt den Groß­grund­be­sitz des Kle­rus zu pfän­den und die Rechte der Frauen zu stär­ken, platzt dem Pre­di­ger end­gül­tig der Kra­gen. Er legt sich öffent­lich mit dem Mon­ar­chen an und wird dar­auf­hin von König Moham­mad Reza Pahl­avi 1964 des Lan­des verwiesen.

Doch Kho­meini hat Wut im Bauch. Aus sei­nem Exil im Irak setzt er seine Schrif­ten gegen die Mon­ar­chie fort. In meh­re­ren Essays, Büchern und Arti­keln pro­pa­giert Kho­meini seine Idee einer isla­mi­schen Repu­blik und fin­det damit bei vie­len Schii­ten Gehör. Wäh­rend­des­sen ver­liert der ira­ni­sche König immer mehr Rück­halt in der Bevöl­ke­rung. Seine libe­ra­len Refor­men kom­men vor allem im kon­ser­va­ti­ven Lager nicht gut an. Dort befürch­ten sie eine Auf­wei­chung der ira­ni­schen Kul­tur. Aber vor allem der Ein­fluss der USA auf Regie­rungs­ge­schäfte, die Aus­beu­tung ira­ni­scher Ölfel­der durch aus­län­di­sche Unter­neh­men unter Zustim­mung des Königs und die bru­tale Will­kür der Mon­ar­chie gegen­über dem eige­nen Volk las­sen die Oppo­si­tion erstar­ken. Es kommt zu Demons­tra­tio­nen und Streiks. Linke, Gewerk­schaf­ter, Arbei­ter und Bür­ger der Mit­tel­schicht gehen auf die Stra­ßen, üben Druck auf die Obrig­keit aus, leis­ten Oppo­si­ti­ons­ar­beit. Mora­lisch unter­stützt wer­den sie von den Kle­ri­kern. Auch die Reden und Schrif­ten Ruhol­lah Kho­mei­nis lie­fern Inspi­ra­tion und Anre­gun­gen. Aus dem Exil agiert er immer wie­der mit öffent­li­chen Stel­lung­nah­men gegen den Schah und behaup­tet sich so als geis­ti­ger Anfüh­rer der Oppo­si­tion. Dabei könn­ten die jewei­li­gen Ziele der oppo­si­tio­nel­len Grup­pen nicht unter­schied­li­cher sein: Wäh­rend die pro­gres­si­ven Kräfte schnel­lere und umfang­rei­chere Refor­men for­dern und sich gegen die eigene, von impe­ria­lis­ti­schen Mäch­ten gesteu­erte Mon­ar­chie erhe­ben, ver­lan­gen die erz­kon­ser­va­ti­ven Kle­ri­ker die Rück­nahme bereits beschlos­se­ner Ver­än­de­run­gen und for­dern mehr eigene Rechte.

Der König ant­wor­tet auf die anhal­ten­den Demons­tra­tio­nen mit Fol­ter und Mord. 1978 ver­hängt er das Kriegs­recht. Hun­derte Demons­tran­ten wer­den dar­auf­hin in den Groß­städ­ten Tehe­ran und Täbris, aber auch in Ghom auf offe­ner Straße erschos­sen. Es ist ein letz­ter ver­zwei­fel­ter Akt des Mon­ar­chen sich gewalt­sam an der Macht zu hal­ten. Erfolg­los. Die Men­schen pro­tes­tie­ren wei­ter­hin gegen den König. Zu die­sem Zeit­punkt ist Kho­meini end­gül­tig der spi­ri­tu­elle Füh­rer der Mas­sen. Obwohl noch immer im Exil, wird er welt­weit zum Sym­bol der ira­ni­schen Revo­lu­tion. Im Jahr 1979 ist die Oppo­si­tion end­lich sieg­reich. Schah Moham­mad Reza Pahl­avi flieht am 16. Januar in die USA. Die Mon­ar­chie im Iran ist gestürzt.

Ghom, Iran

Ghom, Iran

Nur wenige Tage spä­ter kehrt Kho­meini in den Iran zurück und setzt sich direkt an die höchste Stelle des Staa­tes. Er hat die Vision eines unab­hän­gi­gen, theo­kra­ti­schen Staa­tes, der von den höchs­ten isla­mi­schen Gelehr­ten beherrscht wird und ver­kün­det selbst­be­wusst und auto­kra­tisch: „Ab jetzt werde ich es sein, der die Regie­rung ernennt.“

Nach der Macht­über­nahme ruft Kho­meini eine isla­mi­sche Repu­blik aus, setzt eine neue Ver­fas­sung ein und erklärt die Scha­ria, die isla­mi­sche Recht­spre­chung, zum gül­ti­gen Gesetz­buch. Alles Unis­la­mi­sche wird bald dar­auf ver­bo­ten. Damit sind vor allem mon­ar­chi­sche, demo­kra­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Kräfte gemeint. Kho­meini kennt keine Kom­pro­misse. Die eins­ti­gen Oppo­si­ti­ons­part­ner erklärt er nun zu Fein­den, die er rück­sichts­los und bru­tal ver­fol­gen lässt. Tau­sende Ira­ner, linke Stu­den­ten und Intel­lek­tu­elle, Schrift­stel­ler, Gewerk­schaf­ter, Jour­na­lis­ten und Refor­mer ver­las­sen das Land, flie­hen nach Europa und Amerika.

Wer es nicht recht­zei­tig schafft zu ent­kom­men, den erwar­tet das Schlimmste. Will­kür­li­che Exe­ku­tio­nen gehö­ren zum All­tag. Per­so­nen ver­schwin­den spur­los. Die breite hete­ro­gene Basis, die gegen den Schah demons­trierte, wird aus­ge­löscht. Übrig blei­ben die Kle­ri­ker mit einem Macht­mo­no­pol. Nach dem Abdan­ken der Mon­ar­chie zieht nun die isla­mi­sche Revo­lu­tion über das Land. Mit Kho­meini als Staats­ober­haupt beginnt ein Per­so­nen­kult im Iran, der den Aja­tol­lah in den Stand eines Hei­li­gen ver­setzt. In allen öffent­li­chen Gebäu­den hängt sein Bild. Jede Stadt benennt Stra­ßen oder Plätze nach dem neuen Herr­scher. Das Kon­ter­fei des Kle­ri­kers prangt als Graf­fiti von Haus­wän­den. Auch bei­nahe 30 Jahre nach sei­nem Tod hat sich nichts daran geän­dert. Kho­meini ist überall.

 Khomeini, iranische Revolution

 

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Morten & Rochssare

Per Anhalter und mit Couchsurfing reisen Morten und Rochssare ab 2011 zwei Jahre lang zwischen Feuerland und der Karibik kreuz und quer durch Südamerika. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie auf ihrem Blog und in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen bei Malik National Geographic.

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