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4.200 Kilometer auf dem mächtigsten Strom der Welt

Schmale Gas­sen und enge Trep­pen müs­sen wir über­win­den, als wir das Schiff nach Belém betre­ten. Mit unse­ren Ruck­sä­cken pas­sen wir kaum durch die Öff­nung zum höher gele­ge­nen Deck. Erst als ich mit der Brust auf einer der obe­ren Stu­fen liege, rutscht mein Ruck­sack an der Kante der Ein­stiegs­luke vor­bei und ich schaffe den Auf­stieg in die nächste Etage.

Zum ers­ten Mal betre­ten wir ein Boot, dass bereits meh­rere Tage auf dem Ama­zo­nas unter­wegs ist. Wie erwar­tet schau­keln unzäh­lige Hän­ge­mat­ten über den Decks hin und her, Gepäck liegt über­all auf dem Boden ver­streut und hin und wie­der schauen müde Augen aus einem der schwan­ken­den Bet­ten zu uns hin­über. Nur müh­sam schlän­geln wir uns durch das Laby­rinth aus Kof­fern, Taschen, Plas­tik­tü­ten und Rück­sä­cken. Eine Runde, zwei Run­den, drei Run­den lau­fen wir ent­lang der Reling. Undurch­dring­lich ist die Mauer aus bun­ten Stoff­bah­nen. Nichts zu machen. Hier fin­den wir kei­nen Platz mehr. Auf dem Weg zum Ober­deck bleibe ich mit mei­nem Ruck­sack erneut auf der Treppe ste­cken. Zu eng ist der Durch­gang und zu groß mein Rei­se­ge­päck. Erst nach ein paar unge­len­ken Bewe­gun­gen kann ich mich und mei­nen Ruck­sack durch die Öff­nung zwängen.

Oben ange­kom­men ist die Lie­ge­platz­si­tua­tion genauso aus­sichts­los wie in den unte­ren Decks. Doch wir wol­len um jeden Preis blei­ben, um hier oben zwi­schen all den Pas­sa­gie­ren zumin­dest etwas fri­sche Luft zu atmen. Unser Hän­ge­platz ist als sol­cher eigent­lich nicht zu bezeich­nen. Wir brin­gen unsere Mat­ten zwi­schen bezie­hungs­weise unter die bereits vor­han­de­nen Hän­ge­mat­ten an. Genau so, wie wir es schon so oft bei ande­ren Rei­sen­den gese­hen haben. Platz ist ein Luxus­gut und davon gibt es nur sehr wenig.

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Wäh­rend ich in mei­ner Matte liege und die schwin­gende, rote Stoff­bahne wenige Zen­ti­me­ter über mei­nem Gesicht anschaue, frage ich mich, wer wohl die nächs­ten Nächte über mir schla­fen wird und was ich dabei erle­ben wer­den: lau­tes Schnar­chen, ner­vende Musik aus Han­dy­laut­spre­chern oder ein­fach nur stin­kende Furze? Doch über mir ent­steht keine Kata­stro­phe. Ein jun­ger Mann schwingt sich bedacht in die rote Hän­ge­matte und grüßt mich freund­lich. Neben ihm liegt seine etwa vier­jäh­rige Toch­ter. Obwohl von Beginn an klar ist, dass wir keine ver­bale Kom­mu­ni­ka­tion betrei­ben wer­den – dazu fehlt uns die gemein­same Spra­che – kom­men wir immer wie­der in Kon­takt. Es ist eine die­ser Bord­freund­schaf­ten von denen bei­den Par­teien wis­sen, dass sie nach der Reise been­det sein wird. Nichts­des­to­trotz ver­ste­hen wir uns super, auch ohne jeg­li­chen Wort­wech­sel. Ich wer­den mit Oran­gen aus dem Fami­li­en­pro­vi­ant ver­sorgt und die täg­li­che Frage nach mei­nem Wohl­be­fin­den, aus­ge­drückt mit dem aus­ge­streck­ten Dau­men, beant­worte ich stets mit lächeln­dem Kopfnicken.

Noch nie waren wir so sehr in unse­ren Hän­ge­mat­ten ein­ge­zwängt wie auf dem letz­ten Abschnitt unse­rer Ama­zo­nas­reise. Kaum eine Bewe­gung ist mög­lich, ohne eine andere Hän­ge­matte anzu­schub­sen. Die Strö­mung auf dem Fluss tut ihr Übri­ges. Das Schau­keln des Schif­fes ist dies­mal wesent­lich stär­ker als auf den vier Schif­fen, mit denen wir bis­her gereist sind. Die Bewe­gun­gen des Boo­tes lösen hier in dem engen Gewim­mel aus Hän­ge­mat­ten eine Ket­ten­re­ak­tion aus. Unun­ter­bro­chen schau­keln und schub­sen wir und wer­den glei­cher­ma­ßen von schau­keln­den Hän­ge­mat­ten angeschubst.

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Um der Enge zu ent­kom­men, ver­lasse ich bei den Zwi­schen­stopps unse­rer Reise das Boot. Ein klei­ner Spa­zier­gang an Land, bevor ich wie­der in das Gefäng­nis mei­ner Hän­ge­matte zurück­kehre. Natür­lich kommt es wie es kom­men muss: Auf dem Weg zurück zum Anle­ger sehen ich ein Boot auf dem Ama­zo­nas trei­ben, dass mir doch ver­däch­tig bekannt vor­kommt. Erschro­cken laufe ich zum Pier und stelle fest, dass meine Befürch­tung wahr gewor­den ist. Da, mit­ten auf dem Fluss, schwimmt mein Schiff ohne mich davon. Doch bevor mich voll­kom­mene Panik über­mannt, werde ich schon von ein paar Ein­hei­mi­schen in eine kleine Nuss­schale gesteckt, die gerade able­gen will. Ich bin nicht der Ein­zige, der zu spät zum Hafen zurück­ge­kehrt ist. Mit mir im Boot sit­zen noch zwei wei­tere Zu-Spät-Kommer.

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Mit vol­ler Kraft fah­ren wir dem Pas­sa­gier­schiff hin­ter­her, doch holen wir nur sehr lang­sam auf. Mitt­ler­weile hat sich an Bord her­um­ge­spro­chen, dass es ein paar Nichts­nutze gibt, die die Abfahrt ver­passt haben. Dut­zende Köpfe ragen laut joh­lend über der Reling empor, win­ken uns zu, lachen und rufen uns schon von Wei­tem ent­ge­gen, was sie von die­ser Aktion hal­ten. Scha­den­freude pur und eine will­kom­mene Abwechs­lung wäh­rend der öden Schiffs­fahrt. Als wir end­lich mit unse­rem höl­zer­nen Ein­baum neben dem Rie­sen aus Stahl schwim­men, grin­sen uns aus drei Eta­gen hun­derte Rei­sende an. Einen Emp­fang der beson­de­ren Art genie­ßen wir, als wir zurück an Bord klettern.

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Jeder hat einen Spruch für uns übrig und obwohl ich nie Por­tu­gie­sisch gelernt habe, ver­stehe ich nur zu gut, was sie uns sagen wol­len: „Ihr seid Idio­ten“. Doch einige Zeit spä­ter herrscht wie­der Nor­ma­li­tät. Der undurch­dring­li­che Wald aus Hän­ge­mat­ten hält alle Pas­sa­giere an ihren Schlaf­plät­zen fest. Die Auf­re­gung ist vor­bei und jeder beschäf­tigt sich wie­der mit sich selbst. Jedoch werde ich ab und an noch immer mit einem scha­den­fro­hen Lächeln bedacht. Ledig­lich mein Lie­ge­nach­bar, der junge Mann in der roten Hän­ge­matte über mir, ver­schont mich mit Spott und gra­tu­liert mir zur gelun­ge­nen Klet­ter­ak­tion zurück aufs Boot.

Es ver­ge­hen Stun­den. Hin und her schau­keln wir in unse­ren Hän­ge­mat­ten. Dösend, halb in Trance, lau­schen wir den Geräu­schen des Ama­zo­nas. Doch nicht wil­des Affen­ge­brüll oder kräch­zende Papa­gei­en­rufe drin­gen in unser Ohr, son­dern bra­si­lia­ni­scher Cum­bia-Pop in vol­ler Laut­stärke. An der Bar dröhnt seit Stun­den der selbe ner­ven­auf­rei­bende Remix aus den Boxen und beschallt unver­schämt laut das Ober­deck. Immer und immer wie­der, ohne Pause. Die Ein­zige die daran Gefal­len fin­det, ist das Mäd­chen hin­ter der Bar selbst. Unser mehr­fa­ches Bit­ten um wenigs­tens ein neues Lied bleibt uner­hört und so dudelt ein und das selbe Lied unun­ter­bro­chen von Son­nen­auf­gang bis weit nach Mitternacht.

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Bei­nahe zwei Wochen haben wir bis­her auf dem Ama­zo­nas ver­bracht. Vom perua­ni­schen Iqui­tos bis ins Delta am Atlan­tik. Etwa 350 Kilo­me­ter vor dem Ozean teilt sich der Strom und ergießt sich in sei­nen 200 Kilo­me­ter brei­ten Mün­dungs­be­reich. Etwa ein Fünf­tel des welt­wei­ten Süß­was­sers strömt hier in den Ozean und drängt das Salz­was­ser bis zu 200 Kilo­me­ter zurück ins Meer. Viele kleine und grö­ßere Inseln befin­den sich nun im Lauf des Flus­ses. Bei­nahe jede von ihnen ist bewohnt. Nied­rige Holz­hüt­ten auf hohen Ste­gen ste­hen am Ufer. Allein und umge­ben vom aus­la­den­den Dschun­gel des Ama­zo­nas. Als wir an ihnen vor­bei fah­ren, tau­chen plötz­lich meh­rere kleine Boote auf, die mit laut knat­tern­den Moto­ren auf uns zusteu­ern. Frauen und Kin­der sit­zen in ihnen und win­ken uns zu. Als sie nur noch wenige Meter von uns ent­fernt sind, fliegt ein Paket, in Plas­tik­tü­ten gehüllt, über die Reling und lan­det in unmit­tel­ba­rer Nähe eines der Schiff­chen im Was­ser. Auf und ab schwappt es auf den Wel­len, bis es von einem klei­nen Jun­gen an Bord gezo­gen wird.

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Ver­wun­dert beob­ach­ten wir die Situa­tion. Haben es tat­säch­lich ein paar Dro­gen­ku­riere geschafft, trotz aller Kon­trol­len ihre Ware bis hier­her zu brin­gen? Immer mehr Pakete lan­den in den Flu­ten und so lang­sam kom­men uns diese Unmen­gen an Dro­gen unwirk­lich vor. Schließ­lich erken­nen wir: Hier wird kein Kokain geschmug­gelt. Die Pas­sa­giere unse­res Schif­fes wer­fen Lebens­mit­tel für die Bewoh­ner der Inseln über Bord. Eine Gabe für die, die wenig haben und offen­sicht­lich schon ein ein­ge­üb­tes Ritual. So schnell wie die klei­nen Boote kom­men, so schnell ver­schwin­den sie auch wie­der in Rich­tung ihrer Hütten.

Wir legen, nach einer geplan­ten ein­ein­halb­tä­gi­gen Reise von Sant­a­rém, mit mehr als 12(!) Stun­den Ver­spä­tung im Hafen von Belém an. Nie­mand weiß warum und wo wir so viel Zeit ver­lo­ren haben. Mit­ten in der Nacht ver­lässt kaum ein Pas­sa­gier das Schiff. Auch wir schla­fen ein letz­tes Mal in unse­ren schau­keln­den Hän­ge­mat­ten. Zwei Wochen haben wir in ihnen ver­bracht und die Zeit hat ihre Spu­ren hin­ter­las­sen. Die Auf­hän­gun­gen bei­der Hän­ge­mat­ten sind mehr als nur ein­mal geris­sen, die Lie­ge­flä­chen fast um die Hälfte geschrumpft und den­noch haben sie uns bis zum Schluss einen guten Dienst erwie­sen. 4200 Kilo­me­ter auf dem Ama­zo­nas lie­gen nun hin­ter uns.

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Morten & Rochssare

Per Anhalter und mit Couchsurfing reisen Morten und Rochssare ab 2011 zwei Jahre lang zwischen Feuerland und der Karibik kreuz und quer durch Südamerika. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie auf ihrem Blog und in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen bei Malik National Geographic.

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